Am Rand der Stille

**Am Rande der Stille**

Als Leni um fünf Uhr morgens erwachte, war die Stille in der Wohnung so bedrückend, dass das alte Wandticken der Uhr, die immer bei „12“ stockte, wie der einzige lebendige Klang wirkte. Es war keine gewöhnliche Stille – sie vibrierte wie eine gespannte Saite, unruhig, fast greifbar. Doch in dieser Nacht klangen die Ticks anders, als wollten sie sie überzeugen: Das Leben geht weiter, alles bewegt sich, alles atmet. Selbst wenn es scheint, als wäre die Welt für immer stehen geblieben.

Sie stand auf, lief barfuß über den kalten Boden, spürte, wie die rauen Fliesen ihre Fersen kitzelten, und füllte den Wasserkocher. Ihre Hände zitterten – kaum merkbar, aber genug, um es zu fühlen. Und erst dann begriff sie: Er war nicht nach Hause gekommen. Matthias. Zum ersten Mal in fünfzehn Jahren hatte er nicht hier geschlafen. Kein Anruf. Keine Andeutung einer Erklärung. Nicht einmal der Versuch, die Wahrheit zu verbergen. Nur das leere Bett und das Telefon, das seit neun Uhr abends schwieg.

Leni weinte nicht. Sie lief nicht verzweifelt durch die Zimmer. Sie stand am Fenster mit einer Tasse Tee, der nicht mehr warm wurde, und sah zu, wie die Stadt erwachte. Langsam, wie in einem stummen Film: lila Dunst, aufleuchtende Fenster, ein einsamer Bus auf der verlassenen Straße. Sie beobachtete es, als wäre es ein fremdes Leben, in dem sie nicht mehr existierte.

Ihre Ehe war nie perfekt gewesen, wie auf Hochglanzpostkarten. Doch es gab auch kaum Streit. Alles verlief nach Gewohnheit: die Hypothek, Besuche bei den Eltern, ein Löffel Zucker im Kaffee – für ihn, zwei für sie, Dienstpläne und seltene Ausflüge ins Möbelhaus. Doch irgendwann wurden die Worte kürzer, die Blicke seltener. Sie begannen, leiser zu sprechen. Dann kaum noch hörbar. Und schließlich atmeten sie kaum noch nebeneinander, als fürchteten sie, die Luft zu verschwenden, die sowieso schon zwischen ihnen entwich.

Als er zurückkam – mittags, mit fremdem Parfüm und schuldbewusstem Blick –, sagte sie nur: „Ich weiß.“ Gleichmütig, ohne Zittern, als hätte sie es nicht erst gestern, sondern schon vor Jahren begriffen. Er setzte sich. Schweigend. Starrte auf seine Handflächen, als lägen dort die richtigen Worte. Dann presste er heraus:

„Ich wollte nicht. Es… sollte alles anders sein.“

Sie nickte. Widersprach nicht. Fragte nicht nach. Denn es war bereits geschehen. Weil Worte nichts mehr änderten.

Eine Woche später packte er seine Sachen. Ohne Drama. Ohne Abschiedsszenen. Ohne letzte Gesten. Leni stand in der Tür, beobachtete, wie er eine Tasche nach der anderen hinausschleppte, und mit jedem Schritt wurde es leichter. Sie öffnete die Tür. Er ging. Drehte sich noch einmal kurz um – und sagte nichts. Sie schloss die Tür. Und das war’s.

Dann begann das Seltsame. Das Haus fühlte sich nicht leer an, sondern… befreit. Die Luft war von einer schweren, unsichtbaren Anwesenheit gereinigt, und die Wände schienen aufzuatmen. Zunächst beunruhigte es sie. Dann befreite es sie. Plötzlich hörte Leni, wie viele Geräusche ihr gehörten. Das Plätschern des Wassers. Das Knarren des Sofas. Das helle Klicken des Lichtschalters. Wie morgens die Löffel an den Tassen klirrten, wie Schritte auf dem Holzfußboden hallten.

Sie begann, sich selbst zu hören.

Zuerst fremd, unsicher, als warteten ihre Schritte auf die Zustimmung eines anderen. Als stünde jemand bereit, um „Lass das“, „Nicht jetzt“ oder „Wozu?“ zu sagen. Dann eine andere. Die, die sich die grüne Decke aussuchte, ohne nach Meinung zu fragen. Die in der Küche im Stehen aß. Die sich breit ins Bett warf. Die Musik lauter drehte und mitsang, ohne sich zu schämen. Die den Sonnenuntergang fotografierte, einfach weil er schön war. Weil sie es wollte. Weil es für sie war.

Leni kündigte. Ohne lange zu überlegen. Ohne Abschiedsreden. An einem Abend schickte sie die Kündigung. Sie kaufte sich eine Geige – davon hatte sie seit der Jugend geträumt, es aber immer aufgeschoben. Jetzt nicht mehr. Sie fuhr für eine Woche nach Dresden – allein. Saß in einem Café am Fluss, las, beobachtete Menschen, ohne Eile. Sie schnitt sich die Haare kurz. Schaute zum ersten Mal seit Jahren in den Spiegel und erkannte sich. Sie lernte, „Ich will nicht“ zu sagen – ohne Rechtfertigung. Weil sie es niemandem schuldete.

Ein Jahr später traf sie Matthias zufällig wieder. Auf einem Markt, zwischen Ständen mit Honig und Käse. Er kaufte sich einen Kirschkuchen, noch immer nervös mit der Tüte hantierend. Sie wechselten ein paar Sätze. Zurückhaltend. Ohne Bitterkeit. Ohne „Weißt du noch“. In seinem Blick lag etwas Vertrautes, aber ohne Wehmut. Er ging zuerst. Leni blieb. Betrachtete die Blumen am Stand. Kaufte sich Pfingstrosen. Weiße, mit rosafarbenem Rand. Einfach weil sie Lust darauf hatte.

Als sie den Marktplatz verließ, genau dort, wo sie früher zusammen gestanden hatten, wurde ihr plötzlich klar: Ihr Leben drehte sich nicht mehr um den, der gegangen war. Es ging um die, die geblieben war. Die gelernt hatte, allein zu sein – ohne Angst davor. Die den Sturm überstanden hatte und ins Licht getreten war.

Um sie selbst.

Um die Frau, die ihren Schritten wieder vertraute. Die keine fremde Bestätigung mehr suchte. Die langsam, aber sicher dorthin ging, wo es wärmer war.

Um die Stille, in der sie endlich sich selbst hörte. Lebendig. Wahrhaftig. Und zum ersten Mal im Frieden mit sich.

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Am Rand der Stille
Wenn die Pause zum Ende wird