Der Zug, der rückwärts fuhr

Der Zug, der zurückfuhr

Als Elfriede Schmidt in diesen Zug stieg, hatte sie keinen Zweifel mehr: Ihr Entschluss stand fest. Nicht aus Verzweiflung oder Laune – einfach war jener Morgen gekommen, an dem die Tasse ihr aus der Hand fiel, und sie hatte keine Lust, sie aufzuheben. Dreiundsechzig Jahre – kein Alter für eine Flucht, aber auch kein Urteil zur Einsamkeit.

Sie trug einen leichten Mantel, in der Hand eine Tasche mit Dokumenten, einem Kamm, einem alten Foto und einem Glas Kirschmarmelade. Nicht als Gepäck – als Beweis: »Ich war, ich bin.« Sie verabschiedete sich von niemandem. Die Nachbarin würde nie verstehen, wohin ihre schüchterne, stille Mitbewohnerin verschwunden war. Das Licht blieb an, das Bankkonto ungeschlossen. Elfriede war einfach weg. Still, winterlich – wie der Raureif am Fenster in der Morgendämmerung.

Ihr Sohn hatte seit drei Jahren nicht mehr angerufen. Die Schwiegertochter flüsterte, die Mutter sei »toxisch«, »altmodisch«, »hemme ihre Entwicklung«. Elfriede schwieg. Immer. Doch eines Tages wachte sie auf und wusste: Wenn sie jetzt nicht ging, verschwand sie endgültig. In sich. In der Stille. Im Warten.

Die Stadt, in die sie fuhr, kannte sie seit ihrer Kindheit: verwitterte Häuser, der Geruch von Rauch und feuchtem Lehm, alte Linden in der Hauptstraße. Niemand erwartete sie. Doch darum ging es nicht. Sie musste die wiederfinden, die sie einst war – das Mädchen mit dem Barett, die Frau mit Hoffnung, die Mutter, die noch an Umarmungen statt Vorwürfe glaubte.

Ein Zimmer mietete sie bei einer Witwe – einer knorrigen, gutherzigen Alten. Es roch nach Wachs und Bratäpfeln. Die Wärme war echt, nicht von der Zentralheizung, sondern von Menschen, vom Holzfußboden, vom frisch gebackenen Brot. Elfriede half im Haus, spülte Geschirr, trug Wasser, putzte sogar Fenster – um die Welt zu sehen, nicht ihr Spiegelbild.

Dann fing sie in der Bücherei an. Inoffiziell. Sie sortierte Bücher, wischte Regale ab, machte Tee für die Angestellten. Nach einer Woche grüßte man sie. Nach einem Monat fragten sie um Rat. Ein junger Mann wollte wissen: »Gibt’s was, das das Drinnen nicht mehr wehtun lässt?« Sie reichte ihm Dostojewski. Ohne Erklärung – einfach in die Hand gedrückt.

Über die Vergangenheit sprach sie nicht. Nicht aus Scham, sondern aus Schmerz. Wie erklärt man, dass Ungebrauchtsein in der eigenen Familie schlimmer ist als Einsamkeit? Dass ein Zuhause keine Wände sind, sondern eine Stimme, die einen nicht ruft. Sie schrieb ihrem Sohn. Briefe – ordentlich, auf kariertem Papier. Von der Katze, dem Winter, dem Kümmelbrot. Zwischen den Zeilen – Liebe. Müde, leise, doch lebendig.

Die Antwort kam im Frühling. Auf Papier. Zerknittert, mit tintenverschmierten Stellen:
»Mama, verzeih mir. Willst du – komm zurück. Oder sag, wohin ich kommen soll. Ich habe verstanden.«

Lange saß sie mit dem Brief da. Ihr Herz schlug nicht – es pochte, gleichmäßig und tief, wie ein Pendel. Dann stand sie auf, strich sich die Haare glatt, zog den Mantel an. Dieselbe Tasche. Darin ein neues Glas Marmelade. Mit Kirschen. Dickflüssig, wie Erinnerungen.

Der Zug. Ein neues Ticket. Der Bahnhof. Nur diesmal – keine Einzelfahrt. Eine Rückkehr. Nicht zu dem, was war, sondern zu dem, was noch sein kann.

Оцените статью