Der Zug, der rückwärts fuhr

Der Zug, der zurückfuhr

Als Lieselotte Schmidt in den Zug steigt, ist ihre Entscheidung längst gefallen. Nicht aus Verzweiflung, nicht aus Laune – es war einfach der Morgen gekommen, an dem die Tasse aus ihren Händen fiel und sie sie nicht aufheben wollte. Dreiundsechzig Jahre sind kein Alter, um davonzulaufen, aber auch keine Verurteilung zur Einsamkeit.

Sie trägt einen leichten Mantel, in der Hand eine Tasche mit Dokumenten, einer Haarbürste, einem alten Foto und einem Glas Kirschmarmelade. Nicht als Gepäck, sondern als Zeugnis: „Ich war, ich bin.“ Sie hat sich von niemandem verabschiedet. Die Nachbarin wird nie verstehen, wohin ihre schweigsame, bescheidene Mitbewohnerin verschwunden ist. Das Licht blieb an, das Bankkonto ungeschlossen. Lieselotte ist einfach gegangen. Still, winterlich – wie der Raureif am Fenster im Morgengrauen.

Ihr Sohn hat seit drei Jahren nicht angerufen. Die Schwiegertochter flüsterte von „toxisch“, „altmodisch“, „hemmt die Entwicklung“. Lieselotte schwieg. Immer. Doch eines Tages wachte sie auf und wusste: Geht sie jetzt nicht, verschwindet sie für immer. In sich selbst. In der Stille. Im Warten.

Die Stadt, in die sie fuhr, kannte sie seit ihrer Kindheit: abblätternde Häuser, der Geruch von Rauch und feuchtem Lehm, alte Linden in der Hauptstraße. Niemand erwartete sie dort. Doch darum ging es nicht. Sie musste die wiederfinden, die sie einst war – das Mädchen mit der Mütze, die Frau mit Hoffnung, die Mutter, die noch an Umarmungen statt Vorwürfe glaubte.

Ein Zimmer mietete sie bei einer Witwe – einer kraftvollen, freundlichen Frau. Es roch nach Wachs und Bratäpfeln. Die Wärme war echt, nicht von der Zentralheizung, sondern von Menschen, vom Holzofen, vom frisch gebackenen Brot. Lieselotte half im Haushalt, spülte Geschirr, trug Wasser, putzte sogar Fenster – um die Welt zu sehen, nicht ihr Spiegelbild.

Dann ging sie in die Bibliothek. Inoffiziell. Sie sortierte Bücher, wischte die Regale ab, machte Tee für die Angestellten. Nach einer Woche grüßte man sie. Nach einem Monat fragten sie um Rat. Ein junger Mann fragte: „Gibt es etwas, das die innere Leere stillt?“ Sie gab ihm „Dostojewski“. Keine Erklärung – nur das Buch in seine Hände.

Über die Vergangenheit sprach sie nicht. Nicht aus Scham, sondern aus Schmerz. Wie erklärt man, dass Ungewolltsein in der eigenen Familie schlimmer ist als Einsamkeit? Dass ein Zuhause keine Wände sind, sondern eine Stimme, die nicht ruft. Sie schrieb ihrem Sohn. Briefe – ordentlich, auf kariertem Papier. Von der Katze, vom Winter, vom Brot mit Kümmel. Zwischen den Zeilen: Liebe. Stumm, müde, aber lebendig.

Die Antwort kam im Frühling. Auf Papier. Zerknittert, mit tintenverschmierten Worten:
„Mama, vergib mir. Komm, wenn du willst. Oder sag, wo ich hinkommen soll. Ich habe verstanden.“

Lange hielt sie den Brief in der Hand. Ihr Herz schlug nicht – es pochte, gleichmäßig und tief, wie ein Pendel. Dann stand sie auf, strich sich die Haare glatt, zog den Mantel an. Dieselbe Tasche. Darin ein neues Glas Marmelade. Mit Kirschen. Dickflüssig wie Erinnerungen.

Der Zug. Ein neues Ticket. Der Bahnhof. Doch diesmal nicht eine Fahrt ins Ungewisse. Sondern eine Rückkehr. Nicht zu dem, was war, sondern zu dem, was noch sein kann.

Оцените статью