Der Sonntag, der alles veränderte

Der Sonntag, der alles veränderte

Jeden Sonntag genau um neun Uhr deckte Helga Schmidt den Tisch für zwei Personen. Die kleine Küche in ihrem alten Haus am Rande von Leipzig – eine schneeweiße Tischdecke, zwei Gedecke, zwei Tassen. Rührei mit Butter, frisch geröstetes Brot, starker Tee. Manchmal auch ein Löffel Heidelbeermarmelade, die sie noch zusammen eingekocht hatten. Sie hütete jedes Glas, als wäre darin sein Atem, seine Stimme, seine Wärme konserviert. Alles war bis ins Detail durchdacht, wie in einem Theaterstück, wo jede Bewegung Teil eines Rituals ist. Es war ihre stille Art zu sagen: „Ich denke an dich. Ich bin bei dir.“

Das zweite Gedeck war nicht nur ein Symbol – es war eine Einladung. Für Friedrich Müller, ihren Mann, der vor sechs Jahren von ihr gegangen war. Ein leiser Schlaganfall im Schlaf. Manche mögen sagen, ein sanfter Tod. Aber Helga Schmidt wollte solche Worte nicht gelten lassen. Tod kann nicht gut sein, wenn danach eine Stille bleibt, die schrill ist wie Glas. Wenn niemand mehr da ist, der sagt: „Gieß mir auch eine Tasse ein.“ Wenn du auf den leeren Stuhl blickst und meinst, gleich seine Silhouette zu sehen – doch sie setzt sich nicht, atmet nicht neben dir.

Die Tochter – in Dresden, sie ruft an, aber immer seltener. Die Enkel sind fort: einer nach Österreich, der andere nach Hamburg. Am Kühlschrank hängen ihre Fotos, doch die Gesichter wirken fremd, verblasst nicht nur von der Zeit, sondern auch von der Entfernung. Die Nachbarin Gertrud verlässt kaum noch das Haus – die Beine machen nicht mehr mit. Sie kommt selten, vergisst Worte, verwechselt Namen. Geblieben ist nur die Gewohnheit. Die Gewohnheit, für zwei zu decken.

Sie hielt Helga Schmidt am Leben. Gewohnheit und Erinnerung. Sie glaubte: Solange sie ihm die Tasse hinstellte, war er irgendwo nah. Als wäre er nur kurz weg, als würde er jeden Moment hereinkommen, leise kichern: „Du hast schon wieder zu viel Salz reingemacht“, und sich gegenüber setzen, während er seine Brille zurechtrückte.

So war es bis zu jenem Sonntag im März. Draußen tropfte nasser Schnee, an den Fenstern Perlen wie damals, als sie mit dem Zug zur Oma aufs Land gefahren waren. Helga breitete die Tischdecke aus, stellte alles wie immer bereit. Doch plötzlich – das Klingeln an der Tür. Neun Uhr drei.

Vor der Tür stand ein Junge, etwa zwölf Jahre alt. Brille, zerzauste Mütze, Jacke offen, am Ellenbogen ein schmutziger Fleck. Verwirrt, aber mit einem ernsten, fast erwachsenen Blick.

„Guten Morgen. Ich wohne im dritten Stock. Bei uns ist das Wasser abgestellt. Könnte ich mir Wasser für den Tee holen?“

Schweigend trat sie zur Seite, ließ ihn herein. Er war höflich, wirkte gut erzogen. Sein Blick glitt über den Tisch.

„Erwarten Sie Besuch?“

„Nein. Ich warte.“

Er nickte, fragte nicht weiter. Füllte seinen Kessel. Doch auf der Schwelle zögerte er plötzlich:

„Darf ich mit Ihnen frühstücken? Bei mir schlafen alle bis mittags, und ich hab Hunger.“

Ohne ein Wort deutete Helga auf den zweiten Stuhl. Er setzte sich vorsichtig, aß leise, als fürchtete er, etwas Wichtiges zu stören. Dann begann er zu fragen. Über die Fotos, den Opa, die alten Abzeichen, die Vergangenheit. Nicht aus Höflichkeit, sondern als suchte er Antworten – nicht nur in ihren Worten, sondern auch in ihrer Stimme, den Pausen, den Falten in ihrem Gesicht.

Sie erzählte. Von der Jugend, von Friedrich, von den verlorenen Handschuhen, die sie nie ersetzen konnte. In ihrer Stimme lag Zerbrechlichkeit und zugleich Stärke. In ihr lebte eine Erinnerung, die keiner Rechtfertigung bedurfte. Er hörte zu. Aß langsam. Später brachte er Brötchen von seiner Oma – mit Mohn, mit Kartoffeln. Alte Bücher: „Vielleicht interessiert Sie das.“

Und dann – war er weg. Zwei Wochen lang. Helga fand keine Ruhe. Lauschte auf den Fahrstuhl, wartete auf ein Klingeln. Die Stille in der Wohnung wurde wieder schneidend. Doch dann kam er zurück. Gealtert, als hätte das Leben ihm plötzlich etwas Schweres aufgezwungen.

„Meine Oma ist gestorben“, sagte er leise. „Jetzt kann ich Ihnen nichts mehr mitbringen.“

Er stand gerade, aber seine Lippen zitterten. Der Blick blieb fest, doch darin lag Angst – wie bei jemandem, der allein in einer großen Stadt zurückbleibt.

Sie trat näher. Nahm seine Hand. Einfach, warm, echt.

„Macht nichts. Jetzt backe ich selbst. Ich habe Mehl. Komm vorbei.“

Er nickte. Und in diesem Nicken lag nicht nur Zustimmung zu einem Stück Kuchen – sondern dazu, nicht allein zu sein.

Seitdem stand jeden Sonntag um neun wieder ein zweites Gedeck auf dem Tisch. Doch diesmal war es kein Symbol, keine Erinnerung – sondern für einen lebendigen Menschen. In der Tasse – Tee mit Minze. Und in der Luft – Wärme. Denn Helga spürte zum ersten Mal seit sechs Jahren: Ein Sonntag ist nicht für gestern. Er ist für heute. Und vielleicht für etwas, das neu beginnt.

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Der Sonntag, der alles veränderte
Shadows of a Former Home