**Der Sonntag, der alles veränderte**
Jeden Sonntag um Punkt neun deckte Elfriede Schneider den Tisch für zwei. Die kleine Küche in ihrem alten Haus am Rande von Bremen – eine weiß gestärkte Tischdecke, zwei Gedecke, zwei Tassen. Rührei mit Butter, knuspriges Brot, starker Tee. Manchmal ein Löffel Blaubeermarmelade, die sie noch gemeinsam eingekocht hatten. Sie hütete jedes Glas, als wäre darin sein Atem, seine Stimme, seine Wärme konserviert. Alles war bis ins Detail durchdacht, wie in einem Theaterstück, wo jede Bewegung Teil eines Rituals ist. Es war ihr stummer Weg zu sagen: „Ich erinnere mich. Ich bin bei dir.“
Das zweite Gedeck war nicht nur Symbol – es war eine Einladung. Für Heinrich Schröder, ihren Mann, der vor sechs Jahren im Schlaf still davongegangen war. Ein leiser Schlaganfall. Manche sagten, es sei ein sanfter Tod. Aber Elfriede wollte solche Worte nicht hören. Der Tod kann nicht gut sein, wenn danach eine Stille zurückbleibt, durchsichtig und schneidend wie Glas. Wenn niemand mehr da ist, der sagt: „Gieß mir auch eine Tasse ein.“ Wenn du auf den leeren Stuhl starrst und doch meinst, seine Silhouette gleich zu sehen – doch sie setzt sich nicht, atmet nicht mehr neben dir.
Die Tochter – in Leipzig, ruft an, aber seltener. Die Enkel sind fortgezogen: einer nach Österreich, der andere nach Hamburg. Auf dem Kühlschrank kleben ihre Fotos, doch die Gesichter wirken fremd, verblasst nicht nur mit der Zeit, sondern auch mit der Entfernung. Die Nachbarin Gerda verlässt kaum noch ihre Wohnung – die Beine versagen. Sie kommt selten, vergisst Worte, wirft Namen durcheinander. Geblieben ist nur die Gewohnheit. Die Gewohnheit, für zwei zu decken.
Sie hielt Elfriede am Leben. Die Gewohnheit und die Erinnerung. Sie glaubte: Solange sie ihm die Tasse hinstellte, war er irgendwo da. Als wäre er nur kurz weg, als würde er gleich hereinkommen, leise schnauben: „Wieder zu viel Salz“, und sich gegenüber setzen, die Brille zurechtrückend.
So war es bis zu jenem Sonntag im März. Draußen fiel nasser Schnee, an den Fenstern tropfte es, wie damals, als sie mit dem Zug zu Oma aufs Land gefahren waren. Elfriede breitete die Tischdecke aus, stellte alles bereit, wie immer. Doch plötzlich – ein Klingeln an der Tür. Neun Uhr drei.
Auf der Schwelle stand ein Junge, etwa zwölf. Brille, zerzauste Mütze, die Jacke offen, am Ärmel ein schmutziger Fleck. Verwirrt, aber mit einem erwachsenen Blick.
„Guten Tag. Ich bin aus Haus drei. Bei uns ist das Wasser abgestellt. Könnte ich mir etwas heißes Wasser holen?“
Schweigend trat sie zur Seite. Er war höflich, sah sich um.
„Haben Sie Besuch?“
„Nein. Ich warte.“
Er nickte, fragte nicht weiter. Füllte die Kanne. Doch auf der Schwelle zögerte er plötzlich:
„Könnte ich mit Ihnen frühstücken? Bei mir schlafen alle noch, und ich hab Hunger.“
Ohne ein Wort deutete sie auf den zweiten Stuhl. Er setzte sich vorsichtig, aß leise, als fürchte er, etwas Wichtiges zu stören. Dann begann er zu fragen. Über die Fotos, den Opa, die alten Abzeichen, die Vergangenheit. Nicht aus Höflichkeit, sondern als suche er Antworten – nicht nur in ihren Worten, sondern auch in den Pausen, in ihren Falten, in der Stille zwischen den Sätzen.
Sie erzählte. Von der Jugend, von Heinrich, von verlorenen Handschuhen, die nie ersetzt wurden. In ihrer Stimme lag Zerbrechlichkeit und doch Festigkeit. In ihr lebte eine Erinnerung, die keine Rechtfertigung brauchte. Er hörte zu. Aß langsam. Dann brachte er Brötchen von seiner Oma – mit Mohn, mit Kartoffeln. Alte Bücher: „Vielleicht mögen Sie das?“
Und dann – war er weg. Zwei Wochen lang. Elfriede war unruhig. Lauschte dem Fahrstuhl, wartete auf ein Klingeln. Die Stille in der Wohnung fing wieder an zu schneiden. Doch dann kam er zurück. Gealtert, als hätte das Leben etwas Schweres in ihn hineingepresst.
„Oma ist gestorben“, sagte er leise. „Ich kann Ihnen jetzt nichts mehr bringen.“
Er stand aufrecht, doch seine Lippen zitterten. Sein Blick wich nicht, doch darin lag Angst – wie bei einem, der allein gelassen wurde in einer großen Stadt.
Sie trat zu ihm. Nahm seine Hand. Einfach, warm, echt.
„Macht nichts. Dann backe ich selbst. Ich hab Mehl. Komm vorbei.“
Er nickte. Und in diesem Nicken lag nicht nur Zustimmung zu einem Brötchen – sondern dazu, nicht allein zu sein.
Jetzt stand jeden Sonntag um neun wieder ein zweites Gedeck auf dem Tisch. Doch diesmal – kein Symbol, keine Erinnerung, sondern für einen lebendigen Menschen. In der Tasse – Tee mit Minze. Und in der Luft – Wärme. Denn zum ersten Mal seit sechs Jahren spürte Elfriede: Sonntag ist nicht für gestern. Er ist für heute. Und vielleicht für etwas, das neu beginnt.