Auf der Suche nach Zuhause
Elisabeth war gerade über fünfzig, als ihre einzige Tochter, Gisela, einen Ausländer heiratete und nach Kanada zog – in die Stadt Vancouver, wo Wolkenkratzer neben den kühlen Wellen des Pazifiks standen.
Ihr Mann, Friedrich, war gegen diese Ehe. Er ballte die Fäuste, als er von den Plänen seiner Tochter hörte, doch Elisabeth und Gisela überredeten ihn mit verlockenden Aussichten: ein anderes Leben, bessere Chancen, eine strahlende Zukunft für die Enkelkinder.
„Nur vergiss nicht, wo du herkommst“, sagte Friedrich beim Abschied am Flughafen und drückte sie fest. „Behalte unsere Sprache und gib sie an deine Kinder weiter. Vielleicht sehen wir uns noch einmal…“
Zehn Jahre lang blieb der Kontakt auf Telefonate und seltene Nachrichten beschränkt. Gisela kam kein einziges Mal zurück in ihre Heimatstadt München. Es sei zu teuer, erklärte sie, das Geld müssten sie und ihr Mann hart erarbeiten – es für Besuche zu verschwenden, wäre unvernünftig.
Als Giselas Kinder zur Welt kamen – erst ein Sohn, dann eine Tochter – verstummten die Gespräche über eine Rückkehr ganz. Elisabeth hielt sich tapfer an die Worte ihrer Tochter:
„Hab Geduld, Mama. Wenn wir uns finanziell gefestigt haben, holen wir euch zu uns. Für immer. Dann könnt ihr ganz normal leben…“
Diese Worte wurden Elisabeths Rettungsanker. Sie wartete, ertrug die Sehnsucht, die ihr das Herz zusammenschnürte. Friedrich sah ihr Leid, schwieg aber – die Trennung von der Tochter nagte auch an ihm.
Dann kam der ersehnte Tag. Gisela teilte mit, dass sie kommen dürften. Ein Zimmer sei bereit. Friedrich war skeptisch, sein Herz hing nicht daran. Doch Elisabeth strahlte:
„Komm, Fritz“, überredete sie ihn, ihre Augen leuchteten vor Hoffnung. „Dort ist unsere Gisela, die Enkel, die wir nur von Fotos kennen. Ich will sie in den Arm nehmen, spüren, dass sie da sind. Wie viele Jahre bleiben uns noch? Wir haben nicht ewig Zeit…“
Friedrich, wie immer, gab nach.
Elisabeth verkaufte ihre gemütliche Münchner Wohnung, trotz seines Murrens. Er winkte nur ab: „Mach, was du willst. Wenn was schiefgeht, bist du selbst schuld.“
Mit dem Verkaufserlös flogen sie über den Ozean. Elisabeths Herz klopfte vor Aufregung und Freude: Endlich würden sie wieder vereint sein, als Familie, wie in alten Zeiten. Das Glück schien zum Greifen nah.
Doch von Anfang an lief alles schief.
Gisela und ihr Mann holten sie vom Flughafen ab, zeigten ihnen das Haus im Vorort und – verschwanden wegen Arbeit. „Termine“, erklärten sie knapp. Die Enkel musterten Oma und Opa neugierig, hielten sich aber auf Abstand. Von den erträumten Umarmungen keine Spur.
Später stellte sich heraus: Die Kinder sprachen kaum Deutsch. Elisabeth und Friedrich, die in der Schule Französisch gelernt hatten, kannten kein Englisch. Sie verständigten sich mit Händen und Füßen, lächelten verlegen.
Abends hoffte Elisabeth auf ein gemütliches Beisammensein nach zehn Jahren Trennung. Doch Giselas Mann verschwand nach dem Essen, müde vom Tag. Die Enkel gingen früh ins Bett – ihr Schultag sei „stressig“ gewesen, so Gisela.
„Bleib wenigstens du bei uns, mein Kind“, bat Elisabeth. „Erzähl uns, wie es euch hier geht.“
„Mama, Papa, ihr seid müde von der Reise“, antwortete Gisela sanft, aber bestimmt. „Ruht euch aus. Wir haben noch Zeit zum Reden.“
Doch die Zeit fand sich nicht.
Gisela und ihr Mann waren ständig beschäftigt, die Enkel lebten in ihrer eigenen Welt. Die Sprachbarriere machte sie zu Fremden im eigenen Zuhause. Elisabeth wollte im Haushalt helfen, doch ihre Tochter stoppte sie:
„Mama, du musst nicht arbeiten! Die Putzfrau kommt wöchentlich, sie erledigt alles. Entspannt euch.“
„Dann holen wir wenigstens die Enkel von der Schule ab“, schlug Elisabeth vor und blickte sehnsüchtig zu den Kindern. „Vielleicht tauten sie dann auf.“
„Nein, Mama, dafür haben wir ein Kindermädchen“, entgegnete Gisela. „Das ist ihr Job.“
„Aber warum zahlen, wenn wir selbst da sind?“, rief Elisabeth fast verzweifelt.
„So macht man das hier nicht“, seufzte Gisela. „Die Leute brauchen das Geld.“
„Ach, Gisela“, Elisabeths Stimme zitterte, „ich verstehe diese Art nicht zu leben. Es fühlt sich alles so kalt an…“
„Was heißt denn ‚kalt‘?“, lachte Gisela. „Ihr seid nicht mehr zu Hause, Mama. Gewöhnt euch an die neuen Regeln.“
„Wir gewöhnen uns“, erwiderte Elisabeth bitter. „Aber wir bleiben Fremde. Keiner, mit dem man reden kann, und die Sprache… Friedrich hatte recht. Wir hätten nicht kommen sollen.“
„Mama, jetzt übertreib nicht!“, versuchte Gisela sie zu beruhigen. „Es ist erst einen Monat her. Gebt euch Zeit.“
„Dafür sind wir zu alt“, wischte Elisabeth sich eine Träne weg. „Ich will nach Hause. Schade um die Wohnung…“
„Elisabeth, genug“, mischte Friedrich sich ein. „Wir kaufen eine neue. Lass uns zurückfahren. Ich bin müde von diesem fremden Land. Wir haben genug gesehen.“
„Was? Papa, nein!“, Gisela war entsetzt. „Ihr könnt doch nicht einfach gehen!“
„Schon gut, mein Kind“, atmete Elisabeth zum ersten Mal seit Wochen richtig durch. „Wir bleiben noch etwas. Ich schreibe Tante Erna, wir brauchen ja eine Bleibe, wenn wir zurück sind…“
In München wurden sie wie Helden empfangen. Die Verwandten deckten den Tisch, Freunde kamen. Alle fragten: Warum kehrt ihr zurück? War Kanada enttäuschend? Oder gab es Streit mit Gisela?
Elisabeth und Friedrich erzählten von Giselas Leben, den Enkeln, ohne zu klagen. Doch als jemand fragte: „Wenn dort alles so schön ist – warum seid ihr zurück?“, zögerte Elisabeth. Friedrich antwortete für sie:
„Andere Länder, andere Sitten. Aber daheim ist’s doch am schönsten.“
Sie saßen bis Mitternacht zusammen, sangen alte Lieder, lachten und erinnerten sich. Elisabeth weinte vor Glück, als sie die vertrauten Gesichter sah.
Dann begann der Alltag: Eine neue Wohnung wurde gesucht, renoviert, eingerichtet. Sie wählten eine kleinere – das Geld reichte. Und mit jedem Tag spürten Elisabeth und Friedrich, wie in ihren Herzen ein neues Leben begann – warm, echt und ganz ihr eigenes.