An dem Tag, als Nicolas sein Gehör verlor, wurde die Welt um ihn herum beängstigend still.
Es war nicht so, dass alles verstummte – er hörte einfach nichts mehr. Der Bus bremste abrupt, die Fahrgäste schwankten, jemand schrie auf, doch für Nicolas war es wie eine Szene aus einem alten Stummfilm. Alles bewegte sich langsam, wie unter Wasser: Menschen hielten sich an den Haltegriffen fest, eine Einkaufstasche fiel zu Boden, Flaschen klirrten, aber er sah es lautlos, als wäre eine dicke Glasscheibe zwischen ihm und der Welt. Er saß erstarrt da, mit weit aufgerissenen Augen, ohne zu begreifen, was genau verschwunden war. Kein Schmerz, kein Sehvermögen. Nur der Klang – das Selbstverständlichste in seinem Leben.
Zuerst dachte er, es sei vorübergehend. Ein Hörsturz. In einer Stunde würde es wieder da sein. Frische Luft, dann würde es vergehen. Doch draußen blieb die Stille. In der Apotheke bewegte die Verkäuferin die Lippen, doch Nicolas hörte nur Leere. Am nächsten Morgen änderte sich nichts. Kein Knarren der alten Dielen in seiner Wohnung, kein Klirren des Löffels in der Tasse. Nur diese drückende, beklemmende Stille, als wäre er in eine Glaskugel eingeschlossen und vergessen worden.
Krankenhäuser, Ärzte, endlose Untersuchungen. Apparate blinkten, Menschen sprachen auf ihn ein, und er versuchte, von den Lippen zu lesen wie in einem merkwürdigen Theaterstück ohne Dialog. Die Diagnose klang wie ein Urteil: plötzlicher, beidseitiger Hörverlust unklarer Ursache. „Ein seltenes Phänomen“, sagte der Arzt und vermied seinen Blick. „Ohne erkennbaren Grund. Und vermutlich irreversibel.“
Nicolas war dreiundvierzig. Er arbeitete als Anwalt in einer kleinen Stadt am Meer. Sein Leben drehte sich um Worte: Verhandlungen, Telefonate, Reden vor Gericht. Seine Stimme war seine Waffe – scharf, präzise. Er wusste, wie er eine Pause setzen musste, um zu überzeugen, oder ein Wort betonen sollte, um einen Streit zu gewinnen. Dafür respektierte man ihn. Manchmal fürchtete man ihn. Und jetzt? Jetzt war da nur Leere. Nicht nur um ihn herum, sondern auch in ihm. Ohne Klang wusste er nicht mehr, wer er war, wenn er nicht mehr so sprechen konnte wie früher und gehört werden konnte.
Den ersten Monat verließ er kaum das Haus. Nicht aus Scham, sondern aus Verzweiflung. Einfache Dinge, die früher automatisch gingen, wurden zur Qual. Der Einkauf war ein Rätsel: Wie sollte man sich verständigen, wenn man weder Frage noch Antwort hörte? Wie sollte man wissen, was an der Kasse verlangt wurde, wenn die Kassiererin murmelnd auf das Display deutete? Die Postfiliale wurde zum Ort unangenehmer Gesten, misstrauischer Blicke, peinlicher Missverständnisse. Er fühlte sich nicht wie ein Behinderter, sondern wie ein Fremder in einer Welt, die plötzlich nicht mehr die seine war.
Sein Telefon lag auf dem Tisch wie ein nutzloses Stück Plastik. Früher hatte er ständig telefoniert: mit Mandanten, Kollegen, seiner Frau. Jetzt starrte er darauf wie auf ein Relikt aus einem anderen Leben. Selbst im Spiegel kam er sich anders vor – blasser, leiser, als wäre mit dem Klang auch die Farbe aus ihm gewichen.
Doch dann passierte etwas Seltsames. Die Welt wurde… klarer. Nicht leiser – einfach klarer. Nicolas bemerkte zum ersten Mal, wie der Stuhl knarrte, wenn er sich an den Tisch setzte. Wie die Hand seiner Frau zitterte, als sie ihm eine Tasse hinstellte. Wie sie, ohne ein Wort zu sagen, die Lippen zusammenpresste, um ihren Ärger zu verbergen. Er begann Dinge zu sehen, die früher im Alltagslärm untergegangen waren. Es war nicht einfach neu – es veränderte alles.
Er fing an zu lernen. Lippenlesen. Gebärdensprache. Zuerst aus Büchern, dann mit einem Lehrer, schließlich mit Fremden, Verkäufern, Nachbarn. Er machte Fehler, wurde wütend, verwechselte Zeichen, aber gab nicht auf. Langsam wurden seine Gesten nicht nur Bewegungen – sie bekamen Bedeutung, Intonation, Seele.
Nicolas lernte, Menschen in die Augen zu sehen – wirklich zu sehen. Nicht nur während eines GesUnd als die Stille schließlich sein vertrautester Begleiter wurde, begriff er, dass er nie wirklich taub gewesen war – nur still genug, um endlich richtig zuhören zu können.