Die Straße ohne Rückkehr

Die Gasse ohne Wiederkehr

Als er in die Namenlose Gasse abbog, hatte die Nacht Berlin bereits unter ihr schweres Tuch gezogen. Der Himmel hing tief und grau wie die Decke eines verlassenen Krankenhauses und lastete auf seinen Schultern. Es roch nach nassem Asphalt, Kohlerauch und einem Frühling, der nicht Wärme versprach, sondern nur die müde Pflicht des Erwachens. Die Laternen hier waren längst erloschen, der Gehweg bröckelte unter seinen Füßen, und die Schlaglöcher auf der Straße erinnerten an Narben einer vergessenen Zeit. Diese Gasse stand auf keiner Karte – weder in alten Atlanten noch in Handy-Apps. Doch er wusste, dass er hier sein musste, in diesem Winkel der Stadt, wo er sich einst selbst verloren hatte.

In seinen Händen trug er einen abgewetzten schwarzen Koffer – unscheinbar wie der eines fahrenden Vertreters, der nicht Waren, sondern Illusionen verkaufte. Darin: ein zerfleddertes Notizbuch, ein Pullover mit verblasstem Muster, ein Foto in einem zerknitterten Umschlag und ein Brief, den er seit fünfzehn Jahren nicht zu öffnen wagte. Seine Schritte waren langsam, jeder hallte in seinem Körper nach wie ein Echo längst Vergessenen. Als würden nicht nur seine Füße, sondern auch seine Seele über dieses holprige Pflaster gehen und sich an alles erinnern, was er zu vergessen versucht hatte.

An der Ecke duckte sich ein alter Kiosk, bedeckt mit verblassten Plakaten, wie ein Pilz im Schatten. Durch einen Spalt im Fenster fiel warmes Licht, vermischt mit dem Geruch von altem Papier und Staub. Dieses Licht war unerwartet lebendig, wie ein Leuchtfeuer für die, die in ihrer eigenen Erinnerung verloren gingen. Er kaufte sich einen Kaffee aus einem quietschenden Automaten, der hustend einen Plastikbecher ausspuckte. Setzte sich auf den Bordstein, fern vom Licht, nah bei den Schatten. In seiner Brust summte es – kein Schmerz, keine Angst, nur das Gefühl, zu spät gekommen zu sein. Nicht zu einem Treffen. Zum Leben. Zu sich selbst.

Eine alte Frau mit einem Hund trat zu ihm. Ihr Mantel, durchdrungen vom Geruch vergangener Winter, schien die Geschichten eines ganzen Jahrhunderts zu bewahren. Der Hund, schlank, aber mit Würde, betrachtete ihn, als wüsste er mehr als seine Besitzerin. Sie blieben stehen, als hätten sie diesen Moment lange erwartet.

»Suchen Sie jemanden?«, fragte die Alte, ihre Stimme trocken wie Herbstlaub.

»Eher erinnere ich mich«, antwortete er, während er in die Dunkelheit starrte. Die Worte klangen leiser, als er wollte, als lösten sie sich in der kalten Luft auf.

»In der Namenlosen Gasse findet man nur die, die sich selbst verloren haben«, sagte sie und ging weiter, ohne sich umzudrehen, als wisse sie, dass er ohnehin weitergehen würde.

Er blieb sitzen, bis der Kaffee kalt war. Der Plastikbecher lag als letztes warmes Etwas in seinen Händen, und erst dann bemerkte er, wie seine Finger zitterten. Er stand auf. Ging weiter. Die Häuser hier drängten sich zusammen, als fürchteten sie, die Stille könne sie erdrücken. Über einer Tür hing ein Schild: »Gedächtnisspeicher«. Er schob die Tür auf, und sie gab nach, lautlos, als hätte sie sein Kommen ein Leben lang erwartet.

Drinnen war es warm. Es roch nach Holz, Staub und Zeit – dicht, wie in einem Raum voller alter Briefe. Die Luft stand still wie in einer verwaisten Kapelle, in der niemand mehr Kerzen anzündete. Am Tisch saß ein Mann um die sechzig, mit grauen Schläfen und Händen, die zu gütig für diese Welt wirkten. Sein Gesicht war schlicht, doch in seinen Augen lag eine Klarheit, als sähe er mehr, als er sagte.

»Guten Tag. Was haben Sie vergessen?«, fragte er und hob den Blick.

»Nichts. Ich bin gekommen, um etwas zurückzugeben«, antwortete er, und seine Stimme verriet, was er selbst nicht wahrhaben wollte.

Der Mann nickte – nicht überrascht, nicht fragend, sondern als seien dies die einzig richtigen Worte. Er deutete auf einen Stuhl an der Wand. Dort reihten sich Holzkästchen, beschriftet mit ordentlicher Schrift: »1978«, »Winter 1992«, »Herbst 2008«… Er fand seins: »Sommer 2009«. Strich mit dem Finger über den Deckel, als fürchte er, die Aufschrift könnte verblassen, und öffnete es erst dann.

Darin lag ein Umschlag. Er setzte sich. Zog das Foto hervor. Darauf – er, jünger, mit einem Lachen, das er längst nicht mehr im Spiegel sah. Ihre Hand in seiner, Sonnenlicht, das durch Blätter fiel. Jenes Bild, an das er sich nicht zu erinnern wagte, weil darin alles noch lebendig war. Und der Brief – ihre Handschrift, leicht geneigt, eilig, als fürchte sie, keine Zeit mehr zu haben. Drei Zeilen:

»Wenn du hier bist, hast du den Weg gefunden. Danke. Verzeih. Ich habe auch nicht vergessen.«

Er erstarrte. Starrte in den Umschlag wie in einen bodenlosen Brunnen. Dann atmete er aus – schwer, als wälze er Jahre von seinen Schultern. Und plötzlich lachte er. Leise, warm, fast kindlich, als löse sich etwas in ihm, das ihn lange gefangen gehalten hatte. Das Lachen war lebendig, echt, das erste seit Jahren.

Der Mann mit den gütigen Händen trat heran und schenkte Tee ein. Der Dampf stieg auf wie leichter Nebel, hing zwischen ihnen wie eine Brücke.

»Hier verliert man nichts. Hier findet man. Erinnerung, Wärme, manchmal eine Stimme. Manchmal – sich selbst«, sagte er leise, als fürchte er, den Augenblick zu verscheuchen.

Er nahm die Tasse. Trank. Der Tee war schlicht, mit einer leichten Kräuternote, wie man ihn in der Kindheit trank, in einem Haus, das es nicht mehr gab. Er blieb noch eine Weile, lang genug, damit die Stille in ihm sanfter wurde.

Dann ging er hinaus. Draußen begann es zu dämmern. Die Gasse schien nicht mehr namenlos. Dieselben Risse im Asphalt, derselbe schiefe Kiosk, doch in ihnen war Leben. Keine bloße Straße – ein Weg. Einer, den er endlich bereit war zu gehen.

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