Im Treppenhaus roch es nach Feuchtigkeit, billiger Seife und dem Kohlgemüse von gestern. Die Glühbirne unter der Decke blinkte wie in jenen fernen Jahren, als Jakob, noch ein Junge, mit dem Schlüssel an der Schnur hier herumlief. Er drückte auf die Klingel, und seine Finger zitterten verräterisch – sei es von der feuchtkalten Kälte Münchens oder von der Last der Jahre, die auf seinen Schultern lag. Fünfundzwanzig Jahre war er nicht mehr in diesen Stock gestiegen. Zweimal war er am Haus vorbeigefahren: einmal zufällig, das andere Mal absichtlich, verlangsamte seine Schritte, mit einem Herzschlag, der so heftig klopfte, als wüsste es, dass er hier fremd war. Doch nie war er stehengeblieben. Nie hinaufgegangen.
Jetzt stand er da. Vor der Tür, die er selbst im Traum erkannt hätte. Am abgenutzten Griff, an der abgeblätterten Farbe, am vertrauten Riss im Türrahmen, als hätte die Zeit eine Markierung nur für ihn hinterlassen.
Die Tür öffnete eine Frau in einem dunklen Cardigan. Gealtert. Ihre Schultern waren gebeugt, die Hände dünner, wie Zweige, die der Wind ausgedörrt hatte. Doch ihre Augen – dieselben. Tiefe, grau-blaue Augen, als würden sie direkt in die Seele blicken. Sie warfen keine Vorwürfe, drängten nicht. Sie warteten. Wie damals, in ferner Vergangenheit.
„Hallo, Jakob“, sagte sie. Ihre Stimme war heiser, als hätte sie lange geschwiegen, nur um ihre Worte für diesen Moment aufzubewahren. „Du hast dich also doch entschieden.“
Er nickte, fand keine Worte. Einfach nur ein Nicken, wie von einem Jungen, der zu spät nach Hause kommt. In dieser Geste lag alles: Schuld, Sehnsucht, Erleichterung, die in seiner Brust brannte.
„Komm rein.“
Die Wohnung hatte sich kaum verändert. Dieselben verblassten Vorhänge, derselbe Geruch alter Bücher und Vanillekipferln, nur etwas matter, gedämpfter. Doch vertraut. Auf dem Regal waren mehr Fotos dazugekommen – unbekannte Gesichter, Kinder, Enkel. Leben, in denen er nicht vorgekommen war. Leben, die ohne ihn weitergegangen waren.
Sie setzten sich in die Küche. Sie schenkte Tee ein – langsam, bedächtig, als hätte jede Bewegung den Rhythmus ihrer Vergangenheit bewahrt. Jakob nahm die Tasse mit beiden Händen, als wolle er nicht nur die Wärme festhalten, sondern auch diesen Augenblick – ihre Gegenwart, ihr schweigendes Annehmen.
„Ich war da“, sagte er und starrte auf den Tisch. „Bei der Beerdigung. Hab mich in der Menge versteckt. Ich traute mich nicht, näher zu kommen. Beobachtete von weitem, wie ein Feigling, der Angst hat, jemandem in die Augen zu sehen.“
„Ich habe es gewusst“, antwortete sie leise. „Ich habe dich am Tor gesehen. In diesem alten Mantel, wie er ihn trug. Du schautest, als wolltest du bleiben, aber dich nicht traust.“
Er senkte den Blick. Die heiße Tasse brannte an seinen Fingern, doch er öffnete die Hände nicht. Die Worte blieben ihm im Hals stecken, wie ein Kloß, den man nicht herunterschlucken kann.
„Ich… ich wollte früher kommen. So oft. Ich stand unten vor dem Haus, aber ich bin nicht hochgegangen. Alles, was ich sagen wollte, klang lächerlich. Oder zu spät.“
„Und jetzt?“, fragte sie und sah ihm direkt in die Augen.
Er atmete ein. Tief, schwer. Und aus:
„Verzeih mir.“
Ein einziges Wort. Doch darin lag alles. Sein Weggehen, sein Schweigen, die Briefe, die er zerrissen hatte, ohne sie zu Ende zu lesen, die Anrufe, auf die er nicht reagierte. Die Tage, an denen er beinahe den Mut fasste, zurückzukehren, doch die Angst, abgewiesen zu werden, war stärker. Die Jahre, in denen er versuchte zu vergessen, zu verdrängen, auszulöschen. Und all der Schmerz dessen, was er nicht gesagt, nicht getan, nicht mit ihr gelebt hatte.
Sie nickte. Und plötzlich legte sie ihre Hand auf seine. Ihre Handfläche war warm, weich, ohne jeden Vorwurf. In ihr lag die Erinnerung – so schwer, dass es ihm das Herz zuschnürte.
„Ich habe verziehen. Schon lange. Ich brauchte nur jemanden, der sich erinnert. Damit ich nicht allein damit bin. Damit jemand weiß, wie er war. Was er bedeutet hat. Damit er nicht einfach verschwindet, als hätte es ihn nie gegeben.“
Sie saßen schweigend da. Nicht wie Fremde. Wie Menschen, die einen Sturm überstanden hatten und nun die Stille fanden. Wie solche, die wissen, dass nach Verlusten nicht nur Leere bleibt, sondern auch eine Wärme, die man noch retten kann.
Dann holte sie eine Schachtel hervor. Alt, abgenutzt, mit rissigem Karton und vergilbtem Klebeband. Darin lagen seine Kinderzeichnungen: krumme Häuschen, eine Sonne mit schiefen Strahlen, ein Schiffchen mit dem Wort „Mama“ am Bug. Briefe, in seiner Kinderschrift, in denen er sich über die Hausaufgaben beklagte und mit einem neuen Fahrrad prahlte. Und ein Heft – mit seinen ersten Gedichten, holprig, aber ehrlich, wie ein Kinder-Versprechen.
„Das ist alles, was übrig ist“, sagte sie. Ihre Stimme zitterte, doch sie fing sich sofort wieder. „Und du. Du bist übrig. Weil du gekommen bist. Weil du dich erinnerst.“
Als er auf die Straße trat, hatte die Nacht München bereits umhüllt. Die Luft war kalt, die Fenster der Häuser leuchteten warm und lebendig, als riefen sie ihn zurück. Er ging langsam, als fürchte er, dieses neue Gefühl zu verscheuchen – die Leichtigkeit, die die Schwere ablöste.
Er wusste, dass er morgen wiederkommen würde. Ohne Angst. Ohne Zweifel.
Denn dort war seine Erinnerung. Seine Grundlage. Und die Vergebung, nach der er nicht gesucht hatte, die aber das Einzige war, das heilen konnte.