**Fremdes Leid wurde meines**
Heute war ein anstrengender Tag. Ich, Leonhard Meier, wollte nur noch nach Hause. Der Chef hatte morgens schon alle angeschrien, mittags stapelten sich neue Aufgaben, die „eigentlich schon gestern fertig sein sollten“, und der Stau auf der A45 nervte sowieso. Seit über zehn Jahren arbeite ich in der Buchhaltung eines großen Unternehmens in Dortmund, und mit jedem Jahr fällt es mir schwerer, morgens aufzustehen. Der Sinn meiner Arbeit verliert sich zwischen endlosen Formularen und Überstunden. Daheim warten meine alte Zweizimmerwohnung, meine Katze Lotte, die ich einst aus einem Keller gerettet habe, und der Stapel Bücher, den ich immer „fürs Wochenende“ aufhebe.
Ich sehnte mich nur nach Stille, heißem Tee und ein paar Stunden ohne Worte oder Pflichten. Doch als ich in meine Straße einbog, fiel mir etwas Seltsames auf.
An der Bushaltestelle saß eine Frau – älter, in einem abgetragenen Mantel, mit einer einfachen Tüte in der Hand. Sie bettelte nicht, schrie nicht, zog keine Aufmerksamkeit auf sich. Sie saß bloß da und starrte ins Leere. Aber ihre Augen… sie waren nass. Stille Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie wischte sie müde mit dem Ärmel weg.
Ich wollte einfach vorbeigehen. Ich war erschöpft, mein Kopf brummte vom Stress des Tages. Doch etwas in meiner Brust zuckte. Ich blieb stehen. Schwieg. Dann trat ich einen Schritt näher.
„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte ich leise.
Die Frau zuckte zusammen und hob den Blick. Ihre Augen wirkten müde, fast gebrochen. Sie versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr kaum.
„Nein, alles in Ordnung… Ich ruhe mich nur kurz aus.“
„Sie sitzen hier schon zwanzig Minuten“, erwiderte ich sanft. „Kann ich Ihnen helfen?“
Sie presste die Lippen zusammen, als ob sie überlegte, ob sie reden sollte. Spielte mit der Tüte in ihren Händen. Schließlich seufzte sie:
„Wissen Sie… ich möchte nicht nach Hause. Dort ist niemand. Mein Mann ist vor einem Jahr gestorben. Mein Sohn lebt weit weg. Und heute wäre sein siebzigster Geburtstag gewesen. Ich habe eine Torte gekauft, wollte eine Kerze anzünden. Doch dann dachte ich… für wen eigentlich? Soll ich allein feiern? Deswegen sitze ich hier. Klingt albern, oder?“
Ich schwieg. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Denn manchmal sind Worte einfach nur leere Laute.
„Bei mir zu Hause ist gerade der Wasserkocher fertig“, sagte ich leise. „Pfefferminztee, guter sogar. Wenn Sie möchten, könnten Sie mir Gesellschaft leisten.“
Sie musterte mich misstrauisch.
„Sie laden wirklich eine fremde alte Frau zu sich ein?“
„Warum nicht? Vielleicht wohnen wir sogar im selben Haus.“
Sie schnaubte leicht, zuckte mit den Schultern.
„Und Sie sind sicher kein Serienmörder?“
Ich grinste.
„Serienmörder bieten, glaube ich, keinen Pfefferminztee an.“
Sie stand auf. Zögernd. Die Tüte fest umklammert, als würde sie fürchten, es sich anders zu überlegen.
„Ich bin Gisela“, sagte sie leise.
„Leonhard“, nickte ich. „Jetzt sind wir nicht mehr fremd.“
In der Küche tranken wir Tee. Gisela erzählte, wie sie und ihr Mann jeden Herbst Apfelmus gemacht hatten, wie er Regale und Hocker gezimmert und alte Schallplatten geliebt hatte. Ich hörte zu, ohne zu unterbrechen. Nur ab und zu nickte ich.
„Und Sie? Seit wann sind Sie allein?“, fragte sie plötzlich.
„Sechs Jahre“, antwortete ich. „War verheiratet, aber wir gingen auseinander. Kein Streit, wir merkten einfach… wir waren fremd geworden. Sie ist weggezogen, ich blieb.“
„Kinder?“
„Hat nicht geklappt.“
Gisela nickte traurig.
„Einsamkeit ist so eine Sache. Manchmal freut man sich über die Stille, manchmal erschrickt man davor.“
„Ich habe wenigstens Lotte, meine Katze“, grinste ich. „Mit ihr kann ich wenigstens über die Nachrichten diskutieren.“
Wir lachten. Dann sah sie auf die Uhr.
„Danke, Leonhard. Sie haben mir wirklich geholfen. Ich sollte wohl gehen.“
„Kommen Sie gern wieder“, sagte ich. „Tee habe ich immer genug.“
Seit diesem Abend kam Gisela öfter vorbei. Mal mit einem Kuchen, mal mit neuen Socken, mal einfach, um zu reden. Wir sprachen über das Leben, erinnerten uns an Vergangenes, manchmal schwiegen wir – und selbst dann fühlte es sich gut an.
Ich verstand: Manchmal reicht es, jemanden zu retten, wenn man einfach stehen bleibt und sagt: „Sie sind nicht allein.“