Fremde Trauer, eigene Schuld

Fremdes Leid wurde eigen

Andreas eilte nach Hause. Der Tag war hart gewesen: Der Chef hatte morgens alle angeschrien, am Abend stapelten sich plötzlich neue Aufgaben, die „eigentlich schon gestern“ fällig waren, und der Stau hatte ihn völlig erschöpft. Seit über zehn Jahren arbeitete er in der Buchhaltung eines großen Unternehmens in Hamburg, und mit jedem Jahr fiel es ihm schwerer, morgens aufzustehen. Der Sinn seines Tuns verschwand irgendwo zwischen Steuerformularen und Überstunden. Zu Hause erwarteten ihn eine alte Zweizimmerwohnung, seine Katze Lotte, die er einst aus einem Keller gerettet hatte, und ein Stapel Bücher, den er immer „fürs Wochenende“ aufbewahrte.

Er sehnte sich nur nach Stille, heißem Tee und ein paar Stunden ohne Worte und Pflichten. Doch als er in seine Straße einbog, bemerkte er etwas Seltsames.

An der Bushaltestelle saß eine Frau – alt, in einem abgetragenen Mantel, mit einer einfachen Tüte in der Hand. Sie bettelte nicht, schrie nicht, zog keine Aufmerksamkeit auf sich – sie saß nur da und starrte ins Nichts. Aber ihre Augen… ihre Augen waren nass. Stille Tränen liefen ihre Wangen hinab, und sie wischte sie gleichmütig mit dem Ärmel ab.

Andreas wollte einfach vorbeigehen. Er war müde, sein Kopf dröhnte von der Anspannung des Tages. Doch in seiner Brust zuckte etwas. Er blieb stehen. Schweigend. Dann machte er einen Schritt nach vorn.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte er leise.

Die Frau zuckte zusammen und hob den Blick. Ihre Augen wirkten müde, als wären sie gebrochen. Sie versuchte zu lächeln, doch es gelang kaum.

„Nein, alles in Ordnung… Ich ruhe mich nur ein wenig aus.“

„Sie sitzen hier schon zwanzig Minuten“, bemerkte Andreas sanft. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

Sie presste die Lippen zusammen, als überlege sie, ob sie reden sollte. Drehte die Tüte in ihren Händen. Endlich seufzte sie:

„Wissen Sie… ich will nicht nach Hause. Dort ist niemand. Mein Mann ist vor einem Jahr gestorben. Mein Sohn ist weit weg. Und heute wäre er siebzig geworden. Ich habe eine Torte gekauft, wollte eine Kerze anzünden. Aber dann dachte ich – für wen eigentlich? Soll ich mir selbst ein Fest machen? Und so sitze ich hier. Dumm, oder?“

Andreas schwieg. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Denn manchmal sind Worte nur leere Laute.

„Bei mir zu Hause ist gerade der Wasserkocher fertig“, murmelte er. „Pfefferminztee, guter. Wenn Sie mögen – Sie sind eingeladen.“

Die Frau blickte ihn misstrauisch an.

„Sie laden wirklich eine fremde alte Frau zu sich ein?“

„Warum nicht? Vielleicht wohnen wir sogar im selben Haus.“

Sie schnaubte leise, zuckte mit den Schultern:

„Und Sie sind sicher kein Psycho?“

Andreas lächelte:

„Psychos bieten wohl kaum Pfefferminztee an.“

Sie stand auf. Zögernd. Die Tüte fest umklammernd, als fürchte sie, es sich anders zu überlegen.

„Ich bin Gerda“, sagte sie leise.

„Andreas“, nickte er. „Jetzt nicht mehr fremd.“

In der Küche tranken sie Tee. Gerda erzählte, wie sie und ihr Mann jeden Herbst Apfelmus gekocht hatten, wie er Regale und Hocker gezimmert und Schallplatten geliebt hatte. Andreas hörte zu, unterbrach sie nicht. Nur ab und zu nickte er.

„Und Sie?“, fragte sie plötzlich. „Schon lange allein?“

„Sechs Jahre“, antwortete er. „War verheiratet, aber wir haben uns getrennt. Kein Streit, nur… wir wurden fremd. Sie ist weggezogen, ich blieb.“

„Kinder?“

„Hat nicht geklappt.“

Gerda nickte traurig:

„Einsamkeit ist so eine Sache. Manchmal freut man sich über die Stille, manchmal fürchtet man sie.“

„Ich hab wenigstens Lotte, die Katze“, grinste Andreas. „Mit ihr kann ich wenigstens die Nachrichten diskutieren.“

Sie lachten. Dann sah sie auf die Uhr.

„Danke, Andreas. Sie haben mir wirklich geholfen. Ich gehe wohl besser.“

„Kommen Sie gern wieder“, sagte er. „Tee habe ich immer genug.“

Seit diesem Abend besuchte Gerda ihn öfter. Mal brachte sie einen Kuchen, mal neue Socken, mal kam sie einfach nur, um zu reden. Sie sprachen über das Leben, erinnerten sich, schwiegen manchmal – und selbst in der Stille fanden sie Ruhe.

Andreas verstand: Manchmal reicht es, jemanden zu retten, wenn man einfach stehenbleibt und sagt: „Sie sind nicht allein.“

Оцените статью
Fremde Trauer, eigene Schuld
Schatten eines verborgenen Geheimnisses