Die verborgene Seite der Stille

Die andere Seite der Stille

Valentin Friedrich erwachte jeden Tag zur selben Zeit – um 6:14 Uhr. Nicht wegen eines Weckers oder aus Gewohnheit. Sein Körper tauchte einfach von selbst an die Oberfläche des Schlafs, als würde eine innere Uhr, jahrelang eingestellt, ihn wecken. Er setzte sich auf die Bettkante und lauschte der morgendlichen Stille – jener, die nicht sofort kommt, sondern sich erst Monate nach einem Verlust im Haus niederlässt. Wenn man keine Schritte mehr im Flur erwartet, wenn das Quietschen der Tür kein Zittern mehr in der Brust auslöst. Eine Stille, in der man den tropfenden Wasserhahn hört und das Knacken der Heizung. Eine Stille, in der nur die leben, die übrig geblieben sind.

Er machte kein Licht an. Er mochte dieses graue Dämmerlicht – wenn die Welt noch nichts verlangt und an nichts erinnert. In der Küche, zwischen perfekt aufgereihten Tassen, stand eine mit einem abgeplatzten Rand. Einst hatte Lieselotte sie ausgewählt. „Weil sie Charakter hat“, hatte sie gescherzt. Valentin stellte den Wasserkocher an, legte sorgfältig die Tabletten zurecht: weiß am Morgen, rosa am Abend, blau „für alle Fälle“. Alles hatte seinen Platz. Sogar die Einsamkeit. Sie war wie ein Bademantel – vertraut, etwas abgenutzt, aber warm.

Seit sechs Jahren war er allein. Nach Lieselottes Beerdigung war er verrückt geworden – er hatte mit leeren Wänden gesprochen, zwei Tassen auf den Tisch gestellt. Dann lernte er, damit zu leben. Die Einsamkeit wurde keine Strafe mehr, sondern ein Rhythmus. In diesem Rhythmus gab es Regeln: das Rauschen des Vorhangs, das Summen des Wasserkochers, das Knarren des Bodens. Er hielt sich an diese Kleinigkeiten wie an Geländer.

Jeden Morgen ging er zum Markt – nicht für Lebensmittel, sondern für Worte. Drei Sätze mit dem Gemüsehändler, zwei mit dem Metzger, ein Nicken zur Nachbarin. Diese Gesprächsfetzen hielten ihn im Tag. Sie erinnerten ihn daran – er existierte. Seine Stimme war da, wenn auch leise.

An jenem Morgen kam er nur mit Brot zurück, als er den Jungen auf der Bank sah. Er saß zusammengekauert da, in einer Jacke, die zu groß war, mit Schuhen ohne Schnürsenkel, daneben einen Rucksack, der bessere Tage gesehen hatte. Der Junge saß einfach da. Ohne Bitte, ohne Klage. Als erwarte er nichts.

„Du erfrierst noch“, sagte Valentin und trat näher.

„Bin ich schon“, antwortete der Junge leise.

Sie saßen eine Weile schweigend da. Dann stand der alte Mann auf, klopfte sich die Hände ab und sagte:

„Komm, wir trinken Tee. Ich bin sowieso allein. Und reden kann ich mit niemandem.“

Der Junge folgte nicht sofort. Als wolle er prüfen, ob er nicht den Worten, sondern der Stimme vertrauen konnte. Aber dann stand er auf. Und ging mit.

So kam Ben in sein Leben. Zuerst „für ein paar Tage“. Dann „bis wir wissen, wohin du gehst“. Und schließlich blieb er einfach. Ohne Vereinbarungen oder Bedingungen. Der alte Mann fragte nicht – weder nach Eltern noch nach der Vergangenheit. Er drängte sich nicht auf. Er brachte ihm bei, Bratkartoffeln zu machen, Glühbirnen zu wechseln, mit Würde in der Schlange zu stehen. Er ließ ihn alte Bücher lesen, in denen die Worte noch echt waren. Sie wühlten nicht in der Vergangenheit. Sie sprachen nur über morgen.

Nach einem Jahr beantragte Valentin die Vormundschaft. Ben ging auf die Berufsschule, dann fing er an zu arbeiten. Später heiratete er. Doch jeden Abend kam er vorbei. Manchmal mit Brot, manchmal nur mit Schweigen. Einem Schweigen, das alles enthielt.

Als Valentin starb – leise, im Schlaf – fand man auf dem Nachttisch einen Zettel: „Stille ist nicht gleich Stille. Nur jene, in der noch eine Stimme ist, lebt. Danke, dass du sie mir zurückgegeben hast.“

Auf der Beerdigung stand Ben fest da, mit zitternden Fingern und ruhiger Stimme:

„Er hat mir zugehört. Und gelehrt, zu leben. Wirklich. Leise, aber wirklich.“

Am Abend kehrte er in dieselbe Küche zurück, schenkte sich Tee in die Tasse mit dem abgeplatzten Rand. Und stellte eine zweite daneben. Nicht aus Trauer. Sondern als Erinnerung.

Denn Stille ist keine Leere. Sie ist der Ort, an dem die Stimme dessen, der dich leben gelehrt hat, immer noch zu hören ist.

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