— Lieselotte! Bist du zu deiner Mutter gekommen? — ertönte eine Stimme vom Balkon im zweiten Stock.
Lieselotte blickte hoch. Über ihr lehnte sich Frau Schneider, die Nachbarin, die sie seit ihrer Kindheit kannte.
— Ja, ich besuche meine Mutter. Wie geht es Ihnen? — antwortete Lieselotte höflich.
— Danke, noch geht’s. Aber sprich mit ihr, Liebes, sprich… Sie hat sich nach der Scheidung völlig gehen lassen.
Lieselotte zuckte zusammen. Es war unangenehm, wenn Fremde über die eigenen Angehörigen urteilten, ohne Zurückhaltung.
— Heute Morgen wachte ich auf, schaute aus dem Fenster — und da steigt sie aus einem Taxi! Fünf vor sechs. Voll geschminkt, die Haare offen, auf High Heels. Und, verzeih mir, ganz offensichtlich angeheitert. In ihrem Alter! Die Nachbarn tuscheln schon, mir ist es peinlich. Und dass sie Hans rausgeworfen hat — richtig so, oder? Dabei war er doch ein anständiger Mann, ein Fehltritt, aber doch kein Weltuntergang. Mit über fünfzig sich scheiden lassen — wer braucht das schon?
Lieselotte antwortete nicht. Sie presste die Lippen zusammen und stieg die Treppe hinauf.
Vor einem halben Jahr hatte ihre Mutter, Helga Müller, die Scheidung eingereicht. Der Vater hatte sie betrogen. Für Lieselotte war es ein Schock gewesen — nicht wegen des Betrugs, sondern weil die Mutter ihm nicht verziehen hatte. Fünfundzwanzig Jahre hatten sie zusammengehalten. Es gab schwere Zeiten, doch sie überstanden sie gemeinsam. Und plötzlich — Schluss. Koffer, Papiere, Stempel.
Doch das wahre Erschrecken kam danach. Statt Trauer — Schönheitssalons. Statt Omas Strickpullis — figurbetonte Kleider. Statt Fernsehabenden — Restaurants, Tanz, Reisen, Konzerte, Fotos auf Instagram mit einem Glas Wein und strahlendem Lächeln.
Lieselotte schämte sich. Ihre Hochzeit stand in ein paar Monaten an, die Verwandten ihres Verlobten würden kommen. Wie sollte sie erklären, dass ihre Mutter womöglich im Minirock und mit lila Strähnen auftauchen würde?
Sie schloss die Tür mit ihrem Schlüssel auf. Die Wohnung roch nach Parfüm, Kaffee und einem orientalischen Duft. Die Mutter kam aus der Küche — im leichten Hausanzug, mit knallrotem Lippenstift und einem neuen Haarschnitt. Sie wirkte… glücklich. Und das ärgerte Lieselotte.
— Mein Schatz! — strahlte Helga. — Was für eine Überraschung! Komm rein, ich habe gerade Croissants gebacken.
— Mama, ich möchte mit dir reden.
— Ach, schon wieder?
— Frau Schneider sagte, du wärst heute Morgen erst nach Hause gekommen. Betrunken. Mit dem Taxi.
— Oh Gott, dieses Gerede. Ja, ich war feiern. Soll ich mich jetzt verstecken?
— Mama, du bist zweiundfünfzig.
— Und? Soll ich sterben?
Lieselotte ballte die Faust.
— Findest du nicht, dass du dich… unangemessen benimmst?
Helga sah sie schweigend an. Dann nahm sie das Handtuch vom Teekocher und stellte zwei Tassen auf den Tisch.
— Ich lebe nicht nach einem Muster. Ich bin keine Achtzehn mehr, aber ich lebe. Ich habe Wünsche. Und ich bin müde davon, nur Mutter, Ehefrau, Hausfrau zu sein. Jetzt bin ich einfach eine Frau, die endlich für sich selbst leben will.
— Aber du bist doch meine Mutter! — brach es aus Lieselotte heraus. — Und benimmst dich wie ein Teenager! Was werden Thomas’ Verwandte sagen? Wie soll ich erklären, dass meine Mutter in Bars abhängt?
— Erklär es nicht. Lad mich nicht ein, wenn es dir peinlich ist. Aber eins: Ich frage niemanden um Erlaubnis, ich selbst zu sein.
Lieselotte verbarg ihr Gesicht in den Händen.
— Früher warst du anders… ruhig, häuslich. Jetzt bist du wie ausgewechselt.
— Hast du je gedacht, dass ich damals nur funktioniert habe? Für euch. Für die Familie. Jetzt will ich leben — für mich. Ich habe keine Zeit mehr zu warten. Ich will spüren, tanzen, lachen. Und wer mich verurteilt, soll erst mal mein Leben gelebt haben.
Schweigen. Lieselottes Kehle war trocken. Tränen stiegen auf, doch sie hielt sie zurück.
Abends erzählte sie Thomas alles. Er hörte zu und schüttelte den Kopf.
— Ich mag deine Mutter. Sie ist nicht in Selbstmitleid versunken, kein Schatten mehr. Sie atmet endlich. Das darf sie. Du bist es nur nicht gewohnt, sie nicht als Dienerin zu sehen.
— Vielleicht hast du recht…
Eine Woche später rief Lieselotte ihre Mutter an.
— Mama, hallo. Ich habe eine Bar mit Live-Musik gefunden. Lust?
— Du? Mit mir? — fragte Helga überrascht.
— Ja. Ich möchte dich verstehen.
— Dann wundere dich nicht— Nur trink nicht zu viel, klar? — lachte Lieselotte, und in diesem Moment verstand sie, dass Glück niemals ein Alter kennt.