Schatten hinter Glas

Schatten hinter Glas

Jeden Abend, Punkt sechs, ließ sich Horst am Fenster nieder. Nicht eine Minute früher, nicht später. Als würde in ihm ein unsichtbarer Mechanismus auslösen, der immer das gleiche Ritual startete: Wasserkocher an, ein altes Buch schnappen, sich auf das abgewetzte Kissen am Fensterbrett setzen. Auf der Fensterbank stand eine dampfende Tasse, daneben das Buch, und in der Ecke des Glases ein verschwommener Fleck vom Atem – ein Gruß des kühlen Herbstes in Dresden. Das Zimmer badete im warmen Licht der alten Lampe, während draußen die Dämmerung langsam einzog. Das Telefon schwieg. Der Fernseher blieb aus. Horst blickte in den Hof – sein kleines, lebendiges Theater, wo jede Geste, jeder Schritt Teil eines vertrauten Stücks war.

Er war siebenundsechzig. Die Rente knapp, die Gesundheit so unbeständig wie das Aprilwetter: mal klar, mal Sturm. Der Blutdruck machte sich bemerkbar, die Knie schmerzten, aber er hielt durch. Er lebte allein. Seine Frau war vor sechs Jahren gegangen – leise, im Schlaf, ohne Qual, wie man ihm später sagte. Seitdem klang das Haus anders: das Echo seiner Schritte, das Knarren der Dielen, eine Stille, die dichter geworden war. Die Kinder waren fort: der Sohn in Leipzig, die Tochter in Österreich. Sie riefen zu Feiertagen an, sprachen kurz, als würden sie Rapport erstatten. Besuche waren noch seltener. Doch der Hof – der Hof war immer da. Treu wie ein alter Hund, der jeden Abend sein Revier abschritt, ohne eine Ecke auszulassen.

Der Hof war schlicht, fast trist: eine schiefe Bank, eine alte Linde mit abblätternder Rinde, ein paar Autos und ein Sandkasten, der längst zur Müllhalde für Zigarettenkippen und kaputtes Spielzeug verkommen war. Der Asphalt war rissig, und im Frühling spiegelten die Pfützen nur den grauen Himmel und die tristen Fenster der Plattenbauten. Doch Horst kannte diesen Hof wie sein eigenes Spiegelbild. Er bemerkte, wer den Müll falsch entsorgte, wer sich hinter den Garagen mit einer Flasche versteckte, wer den Hund ausführte und wer nur so tat, als ginge er zur Arbeit, aber eigentlich ziellos herumlungerte. Er las sie wie ein Buch, in dem jede Figur ihre Rolle spielte – ohne je vom Drehbuch abzuweichen.

Doch das Wichtigste: Jeden Abend kam sie vorbei. Die Frau im dunkelgrünen Mantel. Groß, mit stolzer Haltung, akkurat frisierten Haaren und einem Buch, das sie an die Brust drückte. Immer allein. Ohne Handy, ohne Kopfhörer. Ihre Schritte waren wie Noten einer unhörbaren Melodie, die sie in sich trug. Sie ging bedächtig, aber mit einer inneren Bestimmtheit, als wüsste sie genau, wohin ihr Weg führte. Und jedes Mal, wenn sie unter seinem Fenster vorbeiging, hob sie den Blick. Manchmal ein leichtes Nicken. Manchmal ein Hauch von Lächeln – so zart, als wäre es ein Geschenk nur für ihn. Und das genügte. Das genügte, um den Abend zum Leben zu erwecken.

Er wusste nicht, wer sie war. Zunächst dachte er, sie wäre neu im Nachbarhaus. Doch dann fiel ihm auf: Sie grüßte niemanden, man sah sie nie im Supermarkt, sie schien aus dem Nichts aufzutauchen. Punkt sechs fünfzehn. Wie nach einer unsichtbaren Uhr. Nie zu früh, nie zu spät, nie vom Weg abweichend. Und darin lag etwas Faszinierendes – diese Beständigkeit, die seinem eigenen Leben so sehr fehlte, wo alles wie Sand zwischen den Fingern zerrann.

Horst begann zu warten. Bereitete sich vor. Zog ein frisches Hemd an, das noch nach Waschmittel roch, sprühte etwas Kölnisch Wasser auf, obwohl er wusste, dass sie es hinter dem Glas nicht riechen konnte. Er machte frischen Tee, legte drei Kekse auf den Tisch, als erwarte er Besuch. Er machte sich nichts vor. Er wollte nur jemand sein, der einen Grund hatte, aufzustehen. Kein Zuschauer mehr, sondern ein Mitspieler – wenn auch nur in diesem leisen, fast unsichtbaren Stück.

Dann kam sie eines Tages nicht. Und auch am nächsten nicht. Eine Woche verging. Die Sorge kroch wie ein kalter Luftzug in seine Brust. Unerklärlich, warum ihr Fehlen sich wie ein Verlust anfühlte. Als hätte man der Welt einen Ton genommen, ohne den sie stumm war. Horst versuchte zu lesen, schaltete das alte Radio ein, doch alles wirkleer. Als hätte jemand das Licht in seinem Theater ausgemacht.

Am neunten Tag ging er hinaus. Zum ersten Mal seit Monaten – nicht für Brot, nicht für Medikamente, sondern einfach so. Er setzte sich auf die Bank, spürte, wie die Kälte durch den Mantel kroch. Beobachtete, wie der Wind die kahlen Äste der Linde schüttelte, wie die Nachbarskatze sich zum Keller schleichte. Er ging zum Nachbarhaus. Spähte in fremde Fenster – dort flimmerten Fernseher, warmes Licht unter Lampenschirmen. Dann zur Bank am Briefkasten. Und plötzlich sah er sie.

Sie saß da, zusammengesunken wie ein Schulmädchen, eine dünne Jacke um die Schultern – viel zu leicht für den Herbstwind. Ohne ihren Mantel. Das Buch lag neben ihr, aufgeschlagen, aber unberührt, als hätte sie sich anders entschieden.

„Guten Abend“, sagte er, und seine Stimme verriet die Nervosität.

Sie hob den Blick. Lächelte – doch in diesem Lächeln lag eine Schwermut, schwer wie nasser Schnee. Als hätten Worte sie lange nicht berührt, als wäre die Stille Teil von ihr geworden.

„Ich habe gewartet, dass Sie herauskommen. Aber Sie kamen nicht.“

Er setzte sich neben sie. Schweigend. Dann, als atmete er endlich aus:

„Ich dachte, Sie wären verschwunden.“

„Das dachte ich auch. Bis ich begriff: Man kann nicht verschwinden, wenn jemand einen in Erinnerung behält.“

Sie saßen da, bis der Hof in der Dunkelheit versank. Menschen gingen vorbei, Schatten wechselten mit Licht, in den Fentern gingen Lichter an und aus. Die Bank war wie eine Insel, auf der die Zeit stehenblieb. Dann lud er sie auf einen Tee ein. Einfach so, als hätte er immer gewusst, dass er das sagen würde. Sie sah ihn an – lange, prüfend, als wollte sie sichergehen, dass es keine Höflichkeit, kein Zufall war. Dann nickte sie. Entschlossen, wie jemand, der eine Wahl getroffen hat.

Sie sagte ja.

Nun blickten sie gemeinsam in den Hof. Um sechs. Immer noch schweigend. Doch die Stille hatte sich verändert – sie war weich geworden, gemütlich wie eine alte Decke. Der Atemfleck auf dem Glas wurde größer. Der Tee wurde stärker aufgebrüht. Denn jetzt war er für zwei.

Оцените статью
Schatten hinter Glas
Schicksalhafte Begegnung: Drama unerfüllter Hoffnungen