**Schatten im zweiten Stock**
Als Nina mit ihrem Koffer in den Hof trat, kam ihr alles fremd vor – sogar die abgeblätterte Bank am Eingang, auf der sie jahrelang gesessen hatte. Sie hatte dort gesessen, während sie ihre Tochter zur Schule schickte, während sie Deckchen für die Nachbarn stickte oder dem Schnee zusah, der im Laternenlicht tanzte. Der Hausflur war derselbe, der Asphalt riss noch immer am Gully, und die Tauben scharrten um die Mülltonnen, als hätte sich die Welt keinen Millimeter bewegt. Doch in ihr war alles zerbrochen. Alles Vertraute wirkte plötzlich kalt und fern, als gehöre es jemand anderem.
Ihr Mann war vor drei Jahren gegangen. Einfach so. „Ich bin müde“, hatte er gesagt – und keine Erklärung gegeben. Kein Geschrei, kein Türknallen, er war einfach verschwunden, als wäre er nur kurz eine Zigarette holen und dann in der Nacht aufgelöst. Die Tochter war nach Nürnberg gezogen, hatte geheiratet, sich scheiden lassen, und nun rief sie nur noch einmal im Monat an: „Mama, alles gut, mach dir keine Sorgen.“ Nina hatte im Archiv gearbeitet, bis die Abteilung geschlossen wurde – „Digitalisierung“, „Optimierung“, Worte, die sich wie Urteile anhörten. Ihr Gedächtnis für alte Dokumente, ihre akribischen Notizen – plötzlich wollte niemand mehr etwas davon in dieser neuen, seelenlosen Welt.
Allein versuchte sie sich zusammenzureißen. Sie kaufte Pflanzen – erst einen Ficus, dann Geranien, bis die Fensterbank in Grün versank. Sie meldete sich im Yogakurs an, obwohl sie Dehnungen hasste – sie stand einfach in den Positionen und spürte, dass ihr Körper noch lebte. Sie kaufte Turnschuhe, ging ein paar Mal im Park spazieren, aber am meisten blieb ihr der Moment im Gedächtnis, als eine alte Frau ihre Wasserflasche fallen ließ und sie über den Weg floss wie eine Träne. Sie probierte Online-Dating, löschte die App aber nach der Nachricht „Zeig mal deine Beine näher“ und schwor sich, nie wieder Nachrichten zu öffnen.
Dann änderte sich alles, als die Wohnung im zweiten Stock frei wurde. Der alte Nachbar war gestorben, die Erben verkauften die Wohnung binnen einer Woche, und bald zog ein junges Paar ein. Doch es war seltsam. Abends leuchteten ihre Fenster, aber kein Laut drang nach draußen – keine Schritte, kein Gespräch, kein Möbelknarren. Nina erwischte sich dabei, wie sie vor ihrer eigenen Tür stehen blieb und lauschte. Doch immer nur Stille. Eine schwere, unnatürliche Stille, als hätte jemand alle Geräusche abgeschaltet, wie im Theater vor dem Vorhang.
Eines Nachts sah sie sie. Die Frau aus dem zweiten Stock. Sie stand barfuß auf dem Balkon, in einem dünnen Nachthemd, und starrte reglos in den leeren Hof. Ihr Gesicht war weiß wie Kreide, die Haare hingen herab wie Schatten. Es war drei Uhr morgens. Nina spürte einen kalten Schauer – keine Angst, sondern etwas Tieferes, wie ein Ruf aus der Dunkelheit. Am nächsten Morgen stand die Tür der Wohnung offen. Ein schwerer Geruch zog heraus – verbranntem Staub und etwas, das sich nicht beschreiben ließ, als würden die Wände ein Geheimnis ausatmen.
Nina stieg hinauf. Sie klingelte. Keine Antwort. Ihr Herz raste, aber sie gab nicht auf. Die Polizei kam wortlos, als wüssten sie, dass es keine Eile mehr gab. Sie fanden die Frau – in einem alten Sessel, dem Fenster zugewandt. Sie starrte ins Nichts. Keine Tränen, keine Worte. Die Ärzte sagten: Nervenzusammenbruch, aufgestauter Stress. Der Mann war weg. Spurlos. Die Nachbarn erinnerten sich kaum, dass er dort gelebt hatte.
Seitdem fand Nina keine Ruhe mehr. Das Haus fühlte sich fremd an, als hätten sich seine Rhythmen verschoben. Als wäre etwas darin erwacht, das die Schatten neu ordnete, die Grenzen zwischen Vertrautem und Fremdem verwischte. Dinge verschwanden – erst vom Treppenhaus, dann aus ihrer Wohnung. Schlüssel, eine alte Brosche, Briefe ihrer Tochter. Als nähme das Haus sie still an sich, wie ein Sammler, dem sie wichtiger waren.
Nun stand sie mit ihrem Koffer, entschlossen, zu ihrem Bruder zu ziehen. Zumindest für eine Weile. Alles in ihr wehrte sich, doch ihr Verstand flüsterte: „Du musst.“ Sie schloss leise die Tür, stieg die Treppe hinab. Doch am Tor fiel ihr ein: Die Schlüssel lagen noch auf dem Tisch.
Sie kehrte zurück. Die Tür ihrer Wohnung stand einen Spalt offen. Sie wusste genau, dass sie abgeschlossen hatte. Ihre Hand zitterte. Ihr Herz schlug wie wild. Der Gedanke blitzte auf: „Was, wenn jemand darauf gewartet hat, dass du gehst?“
Nina trat ein. Im Flur stand ein Koffer. Nicht ihrer. Ähnlich, aber neu, glänzend, mit einem Schild. Daneben – ein Zettel.
„Ich dachte auch, ich könnte fliehen. Ich blieb. Mach nicht denselben Fehler.“
Keine Unterschrift. Nur der Geruch – derselbe wie aus dem zweiten Stock. Trocken, wie aus einem verlassenen Brunnen.
Nina ging. Den Koffer rührte sie nicht an. Sie setzte sich auf die Bank. Sah zu, wie die Sonne hinter den grauen Hochhäusern versank. Langsam, als gäbe sie ihr Zeit.
Dann stand sie auf. Und ging – zum ersten Mal seit Jahren wirklich. Nicht nur vorübergehend. Nicht „für später“. Sie verließ nicht nur die Wohnung, sondern auch die Falle, die das Haus um sie gesponnen hatte.
*Manchmal muss man nicht fliehen – man muss nur gehen, bevor die Schatten einen einholen.*