Es war einmal vor langer Zeit, in einer kleinen Stadt namens Freiburg, im sonnigen Süden Deutschlands.
— *Jakob, worum habe ich dich gebeten? Brot kaufen! Wo ist es?* — rief Lina gereizt von der Türschwelle aus.
Ihr Mann, der im Sessel saß und auf sein Telefon starrte, hob langsam den Blick:
— *Hab’s vergessen. Und jetzt?*
— *Vergessen*, — ahmte sie ihn spöttisch nach. — *Und was gibt’s jetzt zum Abendbrot? Und morgen früh, womit sollen wir die Brote bestreichen?*
— *Du hättest es ja selbst kaufen können*, — begann er sich zu rechtfertigen. — *Du bist doch am Laden vorbeigekommen.*
— *Natürlich, ich. Ich räume auf, koche, kümmere mich um das Kind, arbeite – und das Brot soll natürlich auch ich holen! Wozu brauchst du dann eigentlich dein Gehalt und zwei Beine, Jakob?*
— *Ich geh jetzt nirgendwo hin, klar?*
— *Dann bleib halt hungrig. Mir egal.*
Solche Wortgefechte waren in der Familie Schneider fast an der Tagesordnung. Sie galten nicht einmal als Streit. Es war einfach so: ein bisschen lauter werden, ein paar beißende Sätze austauschen – und dann wieder wie selbstverständlich am selben Tisch sitzen, als wäre nichts gewesen.
Dabei war alles einmal anders gewesen.
Vor sieben Jahren waren Lina und Jakob das Paar, auf das alle Freunde neidisch waren. Jung, verliebt, zärtlich und aufmerksam zueinander. Sie hatten sich an der Universität kennengelernt, aber richtig zusammengefunden erst nach dem Abschluss, als sie sich zufällig in einer Buchhandlung wiederbegegneten.
Erst ein Date, dann noch eins… Jakob schenkte ihr Blumen einfach so, Lina kochte ihm Abendessen, selbst nach einem anstrengenden Tag. Den Urlaub verbrachten sie in den Alpen und träumten naiv, dass alles immer so bleiben würde.
Dann kam die Hochzeit. Zuerst lebten sie zu zweit – glücklich wie im Film. Doch dann wurde Jonas geboren. Und mit dem Sohn begann sich etwas zu verändern.
Unmerklich, wie zwischen den Zeilen – die Überraschungen, spontanen Spaziergänge und Gespräche bis in die Morgenstunden verschwanden. Übrig blieb der Alltag. Lina – in den vier Wänden, Jakob – auf der Arbeit. Er kam müde nach Hause, ständig unzufrieden, sie reagierte gereizt und erinnerte sich immer öfter daran, wie es „früher“ gewesen war.
Streit wurde zur Gewohnheit. Er hatte genug von ihren Vorwürfen, sie von seiner Gleichgültigkeit. Erst kleine Sticheleien, dann ganze Schlagabtausche. Jonas wuchs heran, kam in den Kindergarten. Lina fing wieder an zu arbeiten – es wurde etwas leichter. Als hätten sie endlich wieder Luft zum Atmen.
Doch die Gewohnheit zu streiten blieb. Und keiner von beiden bemerkte mehr, wie leichtfertig sie sich bissige Bemerkungen an den Kopf warfen. Es schien normal.
Doch eines Tages änderte sich alles.
— *Mama, habt ihr euch wieder gestritten?* — fragte Jonas leise beim Abendessen. — *Du hast doch gesagt, ihr redet nur so…*
— *Wir reden wirklich nur*, — versuchte Lina zu lächeln. — *Papa hat das Brot vergessen, ich hab ihn daran erinnert.*
— *Aber du sagst immer, du musst alles alleine machen. Und Papa sagt, du bist immer sauer*, — sagte ihr Sohn ernst.
Jakob senkte den Blick. Lina erstarrte mit der Gabel in der Hand. Keiner von ihnen hatte bemerkt, wie ihre Worte zur Realität ihres Kindes geworden waren.
Ein paar Tage später holte Lina Jonas vom Kindergarten ab. Die Erzieherin hielt sie am Ausgang zurück.
— *Lina, darf ich Sie kurz sprechen?*
Lina dachte sofort: *Was jetzt? Geld, ein Fest, ein Kostüm?* Doch der Blick der Erzieherin war ernst.
— *Jonas ist ein wunderbarer, lieber Junge. Aber wir haben bemerkt, dass er in letzter Zeit mit den Kindern spricht… wie ein Erwachsener. Schroff. Mit Vorwürfen. Heute, als sie „Familie“ spielten, hat er zu Sophia gebrüllt: „Hast du etwa kein Brot gekauft? Ich bin übrigens müde!“*
Lina wurde eiskalt.
— *Und gestern – mit Max. Er schimpfte, er würde alles kaputt machen, zu langsam fahren, dass sie deswegen „zu spät kommen“. Und dann sagte er: „Ich will nicht mit dir reden. Wir reden, wenn du dich beruhigt hast.“*
— *Er… er meint es nicht so*, — flüsterte Lina.
— *Natürlich nicht. Aber Kinder saugen Verhalten auf wie ein Schwamm. Sie und Ihr Mann merken vielleicht gar nicht, dass das für ihn zum Bild einer Familie geworden ist.*
Auf dem Heimweg konnte Lina die Tränen nicht zurückhalten. Wie oft hatte ihr Sohn sie streiten gehört? Wie oft ihre Sticheleien, Vorwürfe, Sätze, die selbst Erwachsenen wehtaten?
Jonas hielt an diesem Abend die Hand seiner Mutter besonders fest. Und zum ersten Mal seit Langem hetzte Lina nicht nach Hause.
— *Mama, musst du nicht Abendessen machen?*
— *Heute bestellen wir Pizza. Und jetzt – lass uns einfach spazieren gehen, ja?*
Jonas glaubte es zuerst nicht. Aber vor Glück hüpfte er. Seine Mutter hatte sich zum ersten Mal seit Ewigkeiten nicht gehetzt.
Als Jakob nach Hause kam, war er wie immer auf eine neue Runde Alltagsstreit gefasst. Doch Lina empfing ihn ruhig. Tee, eine Decke, Stille.
— *Ist etwas passiert?* — fragte er schließlich.
Lina schloss die Küchentür und erzählte leise von dem Gespräch mit der Erzieherin. Dass ihr Sohn von ihnen lernte – von seinen Eltern.
— *Wir müssen uns ändern. Schnell. Bevor es zu spät ist*, — sagte sie.
— *Ich meine es doch nicht böse… Du weißt, ich liebe dich. Aber… wir sind müde. Wir haben vergessen, wie wir einmal waren.*
— *Dann wird es Zeit, sich zu erinnern.*
Sie beschlossen, nicht nur ihren Ton zu ändern, sondern ihr ganzes Leben. Jedes Wochenende – Ausflüge zu dritt. Park, Kino, einfach durch die Stadt fahren. Jeden Freitagabend – ein Familienfilm. Kuschelig, mit einer Decke, Popcorn. Erst als Pflicht. Dann aus Liebe.
Lina lächelte wieder öfter. Jakob murrte nicht mehr. Und sogar den Müll brachte er abends selbst raus – ohne Erinnerung. Sie begannen, einander zu fragen: *„Wie war dein Tag?“* – und hörten wirklich zu.
Und Jonas? Er schrie nicht mehr beim Spielen. Die Erzieherin sagte lächelnd, er sei ruhiger, freundlicher, aufmerksamer geworden. Lina dankte ihr von ganzem Herzen.
Und jeden Abend, wenn das Haus voller Lachen und dem Duft von Kakao war, dachte Lina daran, wie leicht es war, das Familienbild zu zerstören… und wie wichtig, es zu bewahren.
Denn Kinder hören nicht zu – sie ahmen nach. Und wenn wir einander anschreien, hören sie nicht: *Wir reden nur so.*
Sie hören: *So soll es sein.*