„Ich will einfach mal für mich leben“
„Ach, Veronika, hallo mein Schatz! Bist du bei deiner Mutter zu Besuch?“, rief die ältere Nachbarin vom geöffneten Balkonfenster herüber.
„Guten Tag, Frau Wagner. Ja, ich schau kurz vorbei“, nickte die junge Frau.
„Sprich mal mit ihr, Kind. Seit der Scheidung tanzt sie völlig aus der Reihe …“, seufzte die Nachbarin und schüttelte den Kopf. „Ich wach ja früh auf, diese Schlafstörungen … Heute Morgen, kurz vor sechs, seh ich sie erst nach Hause kommen! Aus dem Taxi! Voll geschminkt, die Haare offen … Und nicht nüchtern, da bin ich sicher. Die ganze Nachbarschaft tuschelt schon. So was mit fünfzig! Und den Mann hat sie auch noch rausgeworfen. Der Klaus war ein guter Mensch. Ja, er ist gestrauchelt. Aber nach über zwanzig Jahren Ehe … in dem Alter rennt man doch nicht einfach auseinander!“
„Danke, Frau Wagner“, presste Veronika zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich rede mit ihr.“
„Tu das, unbedingt. Du stehst doch kurz vor dem Altar, Hochzeit, alles geplant – und dann macht deine Mutter so einen Eindruck …“
Veronika lief schnell weiter, als würde ihr alles im Magen verknoten. Sie würde mit ihrer Mutter reden. Jetzt erst recht.
Vor einem halben Jahr hatte ihre Mutter, Helga Schmidt, den Vater mit einer anderen erwischt. Ohne Diskussion folgte die Scheidung. Veronika hatte damals versucht, ihr gut zuzureden – bitte, verzeih ihm, es war doch nur eine Dummheit, sie waren doch kein junges Paar mehr … Aber nein. Weg war er. Und schlimmer noch: Ihre Mutter lebte plötzlich, als wäre sie wieder fünfundzwanzig. Neue Frisur, modische Klammern, Yoga-Kurse, Tanzen, Weinbars. Sie feierte bis in die Morgenstunden, postete Stories mit fremden Leuten, lachte in irgendwelchen Jazzkellern ins Handy …
Veronika schämte sich schon beim Gedanken daran. Sie selbst war verlobt, bald würde die Hochzeit sein, dann Kinder. Wie sollte sie ihren Schwiegereltern erklären, dass ihre Mutter die Nachtclubs unsicher machte? Wo blieb da die würdige Oma?
Als sie die Wohnung betrat, sprang ihr alles an die Nerven – der Parfümgeruch, die leise Musik aus der Küche, wo etwas brutzelte. Dann hörte sie die Stimme:
„Veronikenherz! Hallo, mein Schatz! Wie schön, dass du da bist. Ich mach uns eben Tee.“
Helga sah blendend aus. Für eine Fünfzigjährige kaum Falten, schlank, gepflegte Haare, dezenter Make-up. Kein abgetragener Morgenmantel, sondern ein stylisches Homewear-Outfit. Sie wirkte … glücklich. Und das machte Veronika nur wütender.
„Wie läuft’s mit Markus? Alles nach Plan?“, fragte Helga liebevoll, während sie Tee und Kekse reichte.
„Alles gut“, nickte Veronika. „Und bei dir?“
„Wunderbar! Gestern mit den Mädels ausgeflippt – erst Tanzen, dann Karaoke … Ich fühl mich so lebendig.“
„Ich hab’s gehört. Frau Wagner erzählte, wie du um fünf morgens heimkamst. Und … nicht gerade nüchterne.“
„Ach, die Lotte, natürlich“, schnaubte Helga. „Ja, ich hatte was getrunken. Wir waren doch nicht in der Kirche! Ich schäm mich nicht.“
„Mama …“, Veronika holte tief Luft. „Findest du nicht, dass du übertreibst?“
„Wie meinst du das?“
„Na, du bist nicht mehr zwanzig. Und mit Papa … Ihr wart doch ewig zusammen. Sich in dem Alter scheiden zu lassen … das ist doch … komisch.“
Helga stellte die Tasse ab, sah ihre Tochter ernst an.
„Veronika, ich bin fünfzig. Nicht tot. Ich bin gesund, energiegeladen, habe Träume. Ich werde mich nicht in eine Ecke setzen und still vor mich hinwelken.“
„Mama, du wirst Oma!“, platzte Veronika heraus. „Ich will Kinder – wie soll ich die zu dir bringen, wenn du bis morgens in der Bar hockst?“
„Warum muss ich aufhören, ich zu sein, nur weil du heiratest? Bin ich jetzt nur noch ‚Mutterschaft‘? Ich habe jahrzehntelang für die Familie gelebt. Für dich, für deinen Vater. Der durfte eine Affäre haben, aber ich darf nicht tanzen gehen?“
„Aber das ist doch …“, Veronika zögerte, „… nicht erwachsen.“
„Und wer sagt, dass ich jetzt erwachsen sein will? Ich will leben! Lachen, Neues ausprobieren. Ich bin nicht senil – ich erinnere mich nur daran, wer ich bin. Und wenn du dich für mich schämst: Lad mich nicht zur Hochzeit ein. Ich zieh mir kein graues Kostüm an und mach Dauerwelle, nur damit du dich wohlfühlst. Ich komme, wie ich bin – und ich werde tanzen. Vielleicht schnapp ich mir sogar einen von den Freunden deiner Brautjungfern.“
„Mama, hör auf …“, murmelte Veronika, spürte schon, dass sie diesen Streit verlor.
„Dann sag mir nicht, wie ich zu leben habe. Ich will endlich mal für mich leben. Jetzt.“
Veronika verließ die Wohnung, als hätte man ihr das Herz umgedreht. Reden ging nicht. Die Gedanken wirbelten. Und es tat weh. Als hätte sie nie bemerkt, wie unglücklich ihre Mutter all die Jahre gewesen war. Wie sie still das Leid ertrug. Wie die Rolle als Mutter und Ehefrau die Frau in ihr erstickt hatte.
„Sie atmet zum ersten Mal“, sagte Markus abends, als Veronika ihm alles erzählte. „Das steht ihr zu. Und dein Vater … sorry, aber er ist selbst schuld. Ehrlich? Ich mag deine Mutter. Klug, stark … lebendig.“
„Ich wünschte nur, sie würde … Maß halten.“
„Sie will anders. Lass sie.“
Am nächsten Wochenende rief Veronika von selbst an.
„Mama, hör mal … Lust auf einen Spa-Tag? Und danach in diese kleine Jazzbar? Die soll toll sein …“
„Du hast dich doch für mich geschämt“, erinnerte Helga sanft.
„Ich erzähl allen, du wärst meine kleine Schwester. Keiner glaubt eh, dass du meine Mutter bist.“
Das Lachen am anderen Ende war warm und leicht.
„Na gut, überzeugt. Aber wir kommen früh ins Bett – vergiss es!“
Der Abend wurde wundervoll. Sie redeten, lachten. Zum ersten Mal sah Veronika in ihrer Mutter nicht nur „Mama“ – sondern eine Frau. Eine echte. Starke. Lebendige. Glückliche.
Und zum ersten Mal dachte sie: Vielleicht sollte ich von ihr lernen. Denn für andere leben ist wichtig. Aber für sich selbst … mindestens genauso.