**Der Herbst der Abschiede: Wie Jürgen fast alles verlor**
Jürgen fuhr nach einem erneuten heftigen Streit mit seiner Frau auf das Landhaus. Er sehnte sich nach Stille. Danach, einfach zu verschwinden. Das Haus im Dorf empfing ihn mit feuchter Kälte und drückender Einsamkeit. Er schaltete die Heizung ein, kümmerte sich um die übrig gebliebene Pizza von letzter Woche, aß hastig und sank, ohne sich zu entkleiden, auf das knarrende Bett.
Am nächsten Morgen erwachte er mit einem dumpfen Druck auf der Brust und bleierner Müdigkeit. Sein Kopf pochte. Auf dem Handy blinkte eine Nachricht. Es schrieb Sophie, eine gemeinsame Freundin:
*“Marlene reist irgendwohin. Sah sie mit einem fremden Mann und einem Koffer ins Auto steigen. Tut mir leid, ich konnte nicht schweigen.“*
Jürgen schaltete das Telefon aus. Er hatte keine Kraft zum Nachdenken. Er glitt zurück in einen fiebrigen, endlosen Schlaf.
…Durch den Fieberraum traf er auf Gesichter. Vertraute. Vergangene. Sein Vater – ernst und wortkarg. Die Großmutter mit einer Tischdecke in den Händen. Onkel Alexander, der auf dem Motorrad mit dem Vater verunglückte. Seine Cousine Hildegard, die viel zu früh gegangen war. Sie saßen alle um einen festlich gedeckten Tisch – doch ihn, Jürgen, bemerkte niemand. Er fühlte sich wie ein Fremder unter den eigenen Leuten.
Er wartete auf eine: seine Mutter. Die ihn nach dem Tod des Vaters aufgefangen hatte, so gut sie konnte. Doch auch sie war gegangen, bevor er auf eigenen Füßen stand. Nun blieb er allein zurück in dieser Welt. Zu allein.
Plötzlich – ein stetiges Klopfen an der Tür.
Jürgen wollte nicht aufstehen. Doch irgendwann raffte er sich doch auf. Öffnete.
Vor ihm stand Marlene. Und ihr Cousin Heinrich.
„Wie seid ihr hierhergekommen?“, brachte Jürgen nur mühsam hervor.
„Wo sonst hätten wir dich suchen sollen?“, fragte Marlene unsicher. „Dein Telefon ist aus, die Wohnung leer. Ich hatte Angst.“
„Ich bin krank“, sagte er knapp. „Fieber.“
„Das sieht man!“, mischte Heinrich sich ein. „Ich geh zur Apotheke. Marlene, mach ihm Tee.“
Als er gegangen war, setzte sich Marlene neben Jürgen, strich ihm über die Stirn:
„Es tut mir leid, Jürgen. Ich bin zu weit gegangen. Nachdem Gerda weg war… ich kam nicht damit klar. Ich wollte nicht streiten, nur reden. Doch du warst nicht da. Ich dachte, du bist absichtlich gegangen. Die Wut hat mich übermannt…“
„Schon gut“, sagte er leise. „Hol mir… Wasser, ja?“
Sie eilte in die Küche, kehrte mit Tee und Himbeermarmelade zurück. Plötzlich war sie überall – deckte ihn zu, strich die Decke glatt. Er sah nur zu und schwieg.
Heinrich kam mit Medikamenten zurück. „So, jetzt versöhnt euch. Ich geh mal in den Garten, frische Luft schnappen.“
Marlene erzählte, dass Gerda und ihr Mann angerufen hatten – alles sei gut, nur Jürgen war nicht erreichbar. Er schaltete sein Handy ein – Dutzende verpasste Anrufe.
Bevor er den Tee trank, löschte er Sophies Nachricht. Und schrieb:
*“Marlene und ich sind im Landhaus. Erfinde nichts dazu. Komm vorbei, wenn du willst – wir stellen dich Heinrich vor. Er ist frei. Und Einsamkeit ist ein schlechter Ratgeber, Sophie.“*
Keine Antwort.
Am Abend ging es Jürgen etwas besser. Sie fuhren gemeinsam nach Hause. Der Koffer mit den Sachen verschwand wieder im Schrank. Marlene war da. Ihre Hände – noch immer vertraut. Er erzählte ihr von seinem Traum. Von denen, die im Fieber zu ihm gekommen waren.
Sie drückte ihn und flüsterte:
„Das war kein schlechter Traum, Jürgen. Das war ein Zeichen. Sie kamen, um dir zu sagen – du bist nicht allein.“
Er lächelte. Schlief friedlich ein. Am nächsten Tag würde er krankmelden. Später Gerda anrufen. Und der Sturm… er war vorüber.
Das Leben war wieder still geworden. Warm. Lebendig.