Letztes Läuten
Gisela wachte mit einem Kloß im Hals und Wut im Herzen auf. Der Tag begann schwer, nicht wegen Schlafmangels oder des Wetters — heute war der Geburtstag ihrer Mutter. In ihr brodelte es: Mal dachte sie daran, mal verdrängte sie den Gedanken wieder, lenkte sich ab mit Putzen oder Vorbereitungen für den Besuch bei ihrer Freundin. Sie brachte es nicht übers Herz, die Nummer zu wählen — mal wegen der Zeitverschiebung, mal mit der Ausrede, die Mutter könne schlafen oder beschäftigt sein. Doch die Wahrheit war: Sie hatte Angst anzurufen.
Fast ein Jahr lang hatten sie nicht gesprochen. 365 Tage Stille, unterbrochen nur durch kurze Nachrichten ihres Bruders. Gisela vermisste sie. Und doch… diese Distanz hatte etwas Befreiendes, fast Heilendes. Sie hatte sich an das fragile Gleichgewicht gewöhnt und wusste — ein einziges Gespräch könnte sie wieder innerlich zerstören.
Vor dem Spiegel stand sie, strich vorsichtig Wimperntusche auf und fing ihren eigenen besorgten Blick ein.
„Na komm, Gisela“, seufzte sie, „du kommst nicht drum herum.“
Ihr Bruder war in Kanada, am See mit seiner Freundin — langes Wochenende, Totensonntag. Er hatte der Mutter schon gratuliert, die Schwester vergessen. Die Hoffnung, er würde aus dem Altenheim anrufen und das Telefon weiterreichen, verflog.
Schon immer war das Verhältnis zur Mutter schwierig gewesen. Streng, kalt, erbarmungslos in ihren Worten. Berufliche Kinderpsychologin, machte sie ihre Tochter zum Versuchskaninchen für eigene Theorien. Die Erziehung glich militärischem Drill — mit Plan, Disziplin, Erwartungen. Kindliche Liebe gab es nicht.
Gisela erinnerte sich, wie sie mit sechs Jahren im Frost geweint hatte:
„Mama, mir ist so kalt…“
„Stell dir vor, du bist die heiße Sonne, und lauf schneller“, winkte die Mutter ab.
In der Jugend wurde es schlimmer: ständige Vergleiche mit „den Kindern ihrer Freundinnen“, Vorwürfe, der Zwang, perfekt zu sein. Schule, Englisch, Nähen, Lesen, Sport — alles auf einmal. Keine Zuneigung. Nur Kontrolle. Selbst Erfolge wurden mit Kühle aufgenommen, als wären sie Pflicht. Als Gisela zum ersten Mal bei einem Jungen übernachtete, hieß es:
„Niemand wird dich jetzt noch heiraten.“
Mit dem Bruder war die Mutter nachsichtiger. Er verschwand bei Freunden für Tage, während sie für ähnliches wochenlang Vorwürfe ertrug. Der Vater zog nach der Scheidung nach Österreich, die Oma kam zu Gisela nach Berlin, und die Mutter, als sie allein war, tauchte in Hamburg auf. Ohne Papiere, mit deutschem Pass und einer Lawine von Vorwürfen. Bald darauf zog sie zu einem neuen Verehrer nach München, nach einem Streit mit der Oma wegen der „zerstörten Ehe“.
Männer fanden sie attraktiv. Schönheit, Selbstsicherheit, Klugheit. Doch sie blieben nie lange — sie hielten sie nicht aus. Auch Freundschaften hielten nie. Nur Gisela blieb, wie ein Anker. Doch je älter sie wurde, desto mehr spürte sie, wie dieser Anker sie in die Tiefe zog.
Als sie sich scheiden ließ und nach Köln ziehen wollte, sagte die Mutter:
„Du verlässt die Kinder. Du bist keine Mutter.“
Seitdem redeten sie kaum. Manchmal schickte die Mutter Briefe: lang, emotional, mit Entschuldigungen und Erinnerungen. Darin schien sie echt, als könnte sie auf Papier sein, wer sie im Leben nicht sein konnte. Gisela las sie und hoffte: „Vielleicht ist diesmal alles anders…“
Doch der Kreislauf wiederholte sich. Briefe — Anruf — schroffer Satz — Kränkung — Schweigen.
Als die Mutter erkrankte — Parkinson, Schwäche, Stürze — bestand der Bruder auf einem Heim. Ein Zimmer, Pfleger, Betreuung. Doch selbst dort blieb sie, wie sie war: stets unzufrieden, beißend. Zum 85. Geburtstag kam die ganze Familie — Kinder, Enkel. Fünf Jahre hatte Gisela die Mutter nicht gesehen, nur per Video. Und als sie sich endlich trafen, hörte sie:
„Du hast hübsche Nägel. Machst du das oft?“
Das war das ganze Gespräch. Alles, wozu die Mutter an diesem Tag fähig war.
Ein Jahr verging. Sie sprachen zweimal. Nun hob die Mutter nicht mehr ab — ob sie es nicht hörte oder wollte, blieb unklar. Vom Bruder kamen bruchstückhafte Neuigkeiten, nichts Konkretes.
In Köln wurde es dunkel. Jenseits des Atlantiks war Morgen. Gisela wählte die Nummer. Einmal. Zweimal. Das Altenheim. Die Rezeption. Vergebens. Sie spürte gleichzeitig Schuld und Erleichterung. Und schrieb der Leiterin:
„Bitte übermitteln Sie meiner Mutter meine Glückwünsche. Entschuldigen Sie, dass ich nicht selbst durchkomme.“
Gisela sank aufs Sofa und blickte aus dem Fenster. Morgen würde sie sechzig. Und erst jetzt begriff sie wirklich: Es gibt Kämpfe, die man nicht gewinnen kann. Und alles, was bleibt, ist die Hoffnung, dass irgendwo, tief drin, die Mutter wusste, dass ihre Tochter sie liebte. Trotz allem.