Das Haus, das warten konnte
Als Daria nach fast siebzehn Jahren in ihr Heimatdorf bei Karlsruhe zurückkehrte, stach sie als Erstes, dass alles kleiner wirkte. Die Straßen, die in ihrer Kindheit endlos schienen, waren nun nur noch kurze Wege zwischen müden Häusern. Selbst der Himmel – einst weit und lebendig, ein blaues Meer, in dem sie versinken konnte – war nun grau, tief und schwer, als hätte er sich unter der Last der Zeit gebeugt.
Sie stieg aus dem alten Bus mit einem Rucksack auf dem Rücken und einer Tüte in der Hand. Als sie den rissigen Asphalt betrat, zuckte etwas Uraltes, Vertrautes in ihr. In der Tüte lagen Mandarinen, eine Thermoskanne mit schwarzem Kaffee und ein verblasstes Foto: sie, ihr Bruder Till und ihr Vater vor dem Haus mit der abblätternden Veranda, Sommer 1999. Damals war sie sechs, hatte Schürfwunden an den Knien, ihrem Bruder fehlte ein Schneidezahn, und ihr Vater hatte Hände, in denen nicht nur ihr Leben, sondern auch dieses schiefe, doch lebendige Haus zu ruhen schien.
Ihre Eltern hatten sich 2010 getrennt. Es gab viele Gründe und doch keinen wirklichen. Daria zog mit ihrer Mutter nach Hamburg, während Till beim Vater blieb, doch ein Jahr später wanderte er nach Österreich aus. Der Kontakt wurde seltener. Dann brach er fast ganz ab. Das Leben ist wie ein Fluss – wenn man loslässt, trägt es einen fort.
Ihr Vater war vor Kurzem gestorben. Herzinfarkt. Der Nachbar, Onkel Heinrich, rief an und brachte mühsam hervor:
»Er … hat nach dir gerufen. Kurz bevor … Er sagte, du sollst kommen. Sag ihr, das Haus wartet noch auf sie.«
Diese Worte blieben in ihrem Kopf. Als würde jemand von innen ihre Kehle zudrücken. Sie hatte nicht vor, zu fahren. Alles war längst vergessen, weggesperrt: die Vorwürfe, das Ungesagte, ihr trotziges »Ich will nicht«, sein hartnäckiges Schweigen. Doch dann knackte plötzlich etwas. Nicht abrupt, sondern wie Eis auf einem See – Millimeter für Millimeter. Und dann beginnt es zu fließen.
Das Haus empfing sie mit Stille. So einer, wie es sie in der Stadt nicht gibt – dicht, zäh, als würden die Wände den Atem anhalten, um sie nicht zu verscheuchen. Der Geruch – Holz, Staub, etwas Uraltes, aber nicht Totes. Der Duft der Vergangenheit, in dem seltsamerweise kein Schmerz lag. Nur … Wärme. Etwas Echtes.
In der Ecke stand ihr Kinderstuhl mit abgewetzter Polsterung. An der Wand die Uhr, die längst stehen geblieben war, aber in ihrem Kopf weiter tickte. Sie setzte sich auf den Küchenhocker, legte die Hände auf den Tisch, an dem sie früher mit ihrer Mutter Maultaschen geformt hatte, und starrte in die Leere. In ihr führte jemand ein leises Gespräch. Das Haus war nicht nachtragend. Es fragte nicht, warum sie so lange gebraucht hatte. Es war einfach da.
Am dritten Tag stieg Daria auf den Dachboden. Sie suchte – wusste selbst nicht was. Sie fand eine Kiste. In einer Decke eingewickelt. Staubig. Darin lagen Briefe. An sie. Von ihrem Vater. Jedes Jahr – zum Geburtstag, zu Weihnachten, manchmal einfach so. Sie hatte sie nie erhalten. Jemand hatte sie nicht abgeschickt. Jemand hatte gemeint, es lohne nicht.
Er schrieb über Kleinigkeiten. Wie er Linsensuppe kochte. Wie er den Zaun reparierte. Wie er sie vermisste. Wie er Angst hatte – nicht davor, dass sie nicht verzeihen würde, sondern davor, dass sie nicht zurückkäme. Manchmal bat er um Vergebung. Manchmal stand nichts da außer: »Ich habe das Licht für dich angelassen.«
In einem Brief – eine Liste ihrer Lieblingsbücher. »›Der Steppenwolf‹ – angefangen, aber nicht zu Ende gelesen. Zu schwer. ›Heidi‹ – gelesen. Du hattest recht. Güte wirkt.« In einem anderen – das Rezept für den Apfelkuchen ihrer Oma. »Du hast danach gefragt. Habe es aufgeschrieben. Aber deiner schmeckt besser.« Im nächsten – nichts außer einer Zeile: »Ich warte.«
Sie las sie die ganze Nacht. Laut. Flüsternd. Wie ein Mantra. Dann stand sie auf. Wischte den Boden. Öffnete die Fenster. Putzte die Scheiben. Die Luft kroch ins Haus wie ein schüchterner Gast. Das Haus schien auszuatmen. Und mit ihm – sie.
Am nächsten Morgen ging sie zur Post. Hinter dem Schalter saß eine Frau in einer rosa Weste mit einer Goldkette um den Hals.
»Arbeitet Frau Meier noch hier?«
»Sie ist vor sieben Jahren gestorben. Vor ihr – waren andere. Es wechselte oft. Niemand blieb lange.«
Daria verstand. Die Briefe waren zwischen den Aushilfen verloren gegangen. Und er – hatte trotzdem weiter geschrieben.
Eine Woche später hing ein Schild am Gartenzaun: »Hausgemachte Kuchen. Apfel, Quark, Kirsch.« Handgeschrieben. Mit Edding. Mit Klebeband befestigt, wie damals die Zettel wegen verlorener Hunde. Am ersten Tag kam niemand. Am zweiten brachte Tante Gisela ein Glas Marmelade und ein paar alte Äpfel:
»Back was. Vielleicht erinnere ich mich dann an Oma.«
Am dritten kamen Kinder. Kauften ein Stück zu dritt, aßen langsam, betrachteten die Veranda, kicherten.
Ein Monat verging. Das Haus füllte sich mit Gerüchen. Teig, Zucker, ein bisschen Zimt. Schritte. Das Bellen des Nachbarhundes. Geöffnete Fenster. Das Haus begann zu atmen. Und mit ihm – sie.
Daria verkündete nicht, dass sie blieb. Sie blieb einfach. Kochte Kompott. Wischte die Fensterbänke. Las die Briefe ihres Vaters. Manchmal – laut.
Manchmal muss man zurückkehren, um wieder man selbst zu sein. Nicht für die Vergangenheit, sondern für das, was all die Jahre still auf einen gewartet hat. Nicht in Vorwürfen. Nicht in Streit. Sondern in einem Haus. Das keine Vorhaltungen machte.
Manchmal muss man verzeihen, indem man hört, wie die Uhr wieder tickt. Selbst wenn es nur im Herzen ist.