**Zwei Fremde**
Zuerst dachte Thomas, die Frau gegenüber wäre einfach in Gedanken versunken. Müde vielleicht. Sie starrte aus dem Fenster, wie man das oft in Zügen tut – ohne Absicht, nur um nicht in sich hineinzublicken. Doch dann bemerkte er, dass sie weinte.
Lautlos. Ohne Zucken, ohne Schluchzen. Nur das feine Taschentuch in ihren Fingern zitterte, als trüge es ihre ganze Last, und ihre Schultern bebten kaum merklich im Rhythmus der Räder. Der Zug fuhr gen Süden, langsam, als spürte er, dass in diesem Abteil jemand nicht nur Gepäck trug, sondern etwas, das schwerer wog als Koffer. Die Scheibe vibrierte mit ihrem Atem, als wüsste die Straße selbst – ihr war es gerade unerträglich.
Thomas saß gegenüber, den Laptop auf den Knien. Er musste den Bericht fertigstellen, noch heute abschicken. Schon zum fünften Mal las er denselben Satz, ohne ihn zu verstehen. Er betrachtete sie. Man kann aus verschiedenen Gründen weinen: Wut, Schuld, Verrat. Doch bei ihr war es anders – erschöpft, still, als hätte jemand, der den Schmerz bis zum Äußersten in sich trug, ihn endlich losgelassen. Und beim Loslassen weinte sie nicht über den Verlust selbst, sondern darüber, wie lange sie ihn allein getragen hatte.
Er wollte sich nicht einmischen. Sollte er auch nicht. Doch als ihr Tuch zu Boden fiel, hob er es auf – langsam, behutsam, als gäbe er ihr nicht ein Stück Stoff zurück, sondern ein Stück verlorener Würde.
„Entschuldigung … geht es Ihnen gut?“
Sie hob den Blick. Ihre Augen – graugrün, durchsichtig wie Aprilregen. Sie sah ihn direkt an, ohne sich zu verstecken – und genau darin lag eine stille Stärke.
„Entschuldigung“, sagte sie leise, „ich wollte nicht … stören.“
„Sie stören nicht“, erwiderte er, „es war nur … so unerwartet. Als hätte jemand plötzlich den Ton ausgestellt – und wieder angestellt, aber an einem anderen Ort. Es war … ehrlich.“
Sie nickte. Ein Hauch eines Lächelns berührte ihre Lippen. Dann, nach einer kleinen Pause, sagte sie:
„Ich fahre zu einer Beerdigung. Meine Mutter ist gestorben. In einem Haus, in dem ich seit meinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr nicht mehr war.“
Thomas nickte langsam. Er sagte nichts, aber etwas in ihm veränderte sich. Sein Blick wurde wärmer. Ruhiger. Er spürte – sie musste reden. Und vielleicht fürchtete sie sich zum ersten Mal seit Jahren nicht, gehört zu werden.
„Wir haben uns damals heftig gestritten“, fuhr sie fort, „dumm, aber grausam. Ich sagte, sie sei nicht mehr meine Mutter. Und sie – ich sei nicht mehr ihre Tochter. Wir glaubten beide daran. Und keiner dachte, dass ‚nie‘ eines Tages ‚für immer‘ sein könnte.“
Er senkte den Blick. Ihre Worte klangen nicht wie Vorwürfe. Es war eine Feststellung. Schmerz, den die Zeit gemildert hatte.
„Ich fahre jetzt. Weiß nicht, warum. Vielleicht, um etwas mitzunehmen. Oder um etwas zurückzulassen. Oder … um zu begreifen, dass nichts mehr rückgängig zu machen ist. Wissen Sie, all die Jahre trug ich einen Stein mit mir. Dachte, er sei wichtig. Jetzt verstehe ich nicht mehr – wofür. Vielleicht, um ihn auf ihr Grab zu legen. Oder um ihn endlich loszulassen und weiterzugehen.“
Der Zug fuhr in einen Tunnel. Das Licht erlosch, für eine Sekunde verschwanden ihre Gesichter. Als das Tageslicht zurückkehrte, sah sie ihn an. Wirklich. Als hätte sie sich erst jetzt getraut, hinzuschauen.
„Und Sie? Warum fahren Sie?“
Er lächelte schwach. Seufzte. Antwortete nicht sofort:
„Ich fahre zur Scheidung.“
„So direkt?“
„Fast. Um Papiere zu unterschreiben. Weit weg. Dort, wo wir früher lebten. Es gibt noch Fotos, Geschirr, Bücher. Ich fürchte mich davor, sie anzuschauen. Weil wir darauf – noch zusammen sind. Und längst nicht mehr dieselben.“
Sie nickte. Langsam. Als verstünde sie. Tiefer, als Worte es ausdrücken konnten.
„Züge sind doch alle gleich, oder?“, sagte er leise. „Aber jeder bringt jemanden woanders hin. Dem einen – Schmerz. Dem anderen – Befreiung. Es scheint, als führten die Gleise uns irgendwohin, doch manchmal geben sie nur eins: Zeit zum Nachdenken.“
Sie schwiegen. In der Stille lag eine besondere Dichte. Nicht Pause – Raum. Der Zug raste an grauen Dörfern vorbei, rostigen Lagerhallen, schlafenden Feldern. Und sie standen still – in sich selbst, in ihren Schicksalen.
„Haben Sie … jemals etwas bereut?“, fragte sie, ohne hinzusehen.
„Natürlich“, antwortete er. „Meist nicht die Taten. Sondern die Worte. Die ich nicht sagte. Als ich es hätte können, als ich es hätte sollen. Immer denkt man – es gibt noch Zeit. Doch sie rinnt schneller dahin als der Mut.“
Sie blickte wieder aus dem Fenster. Er – auf ihr Spiegelbild. Dort, im Glas, verloren sich ihre Gesichter, verschwammen, wurden zu einem Aquarell. Sie kannten sich nicht. Doch in diesem Abteil, in dieser Zeit – wurden sie einander näher als viele über Jahre.
„Ich habe immer gedacht“, sprach sie, „wenn man seinen Schmerz erzählt, wird er ein bisschen leichter. Als verließe er einen, hörte auf, nur einem selbst zu gehören. Verteilt sich. Und drückt nicht mehr so sehr.“
„Ja“, flüsterte er. „Sie haben mir geholfen. Mehr, als Sie denken.“
Der Zug verlangsamte sich. Ihre Station. Das Quietschen der Bremsen klang irgendwie besonders traurig. Als wollte der Zug sie nicht gehen lassen.
Sie stiegen gemeinsam aus. Er trug ihre Tasche. Übergab sie am Ende des Bahnsteigs. Um sie herum – Rufe, Bewegung, fremde Hektik. Doch sie berührte das nicht mehr.
„Danke“, sagte sie. Und in ihrem Lächeln lag etwas, das sich nicht in Worte fassen ließ.
„Ihnen auch. Für die Stille und die Ehrlichkeit“, antwortete er.
Sie tauschten keine Namen aus. Brauchten sie auch nicht. Ihr Gespräch blieb bei ihnen. Irgendwo im Körper. In der Brust. Im Gedächtnis. An jenem Ort, den man selten allein erreicht.
Als der Zug abfuhr, gingen sie in entgegengesetzte Richtungen. Ohne sich umzudrehen. Nicht, weil sie nicht wollten. Sondern weil im Abschied alles lag. Und das – reichte.
Manchmal reicht eine Begegnung, um weiterleben zu können. Ein Mensch, mit dem man laut schweigen darf. Eine Strecke, auf der man plötzlich merkt, dass man noch lebt. Und weitergehen kann. Ohne die Last, die man jahrelang trug.