Sabine wachte mit einem Kloß im Hals und Bitterkeit im Herzen auf. Der Tag begann schwer, nicht wegen Schlafmangels oder des Wetters – heute war der Geburtstag ihrer Mutter. In ihr brodelte es: mal dachte sie daran, mal verdrängte sie den Gedanken wieder, abgelenkt vom Putzen oder Vorbereitungen für einen Besuch bei ihrer Freundin. Sie brachte einfach nicht den Mut auf, die Nummer zu wählen – mal wegen der Zeitverschiebung, mal mit der Ausrede, ihre Mutter könnte schlafen oder beschäftigt sein. Doch die Wahrheit war, dass sie Angst vor dem Anruf hatte.
Fast ein Jahr lang hatten sie nicht gesprochen. 365 Tage Stille, unterbrochen nur durch kurze Nachrichten ihres Bruders. Sabine vermisste sie. Und doch… diese Distanz hatte etwas Befreiendes, fast Heilendes. Sie hatte sich an das fragile Gleichgewicht gewöhnt und wusste – ein einziges Gespräch konnte sie innerlich wieder zerbrechen lassen.
Vor dem Spiegel stand Sabine und tuschte vorsichtig ihre Wimpern, während sie ihren eigenen besorgten Blick darin einfing.
„Na dann, Sabine“, seufzte sie, „es führt kein Weg daran vorbei.“
Ihr Bruder war in der Schweiz, am See mit seiner Freundin – lange Wochenenden, Feiertage. Er hatte ihre Mutter schon vorab gratuliert, die Schwester aber vergessen. Die Hoffnung, dass er aus dem Altenheim anrufen und ihr das Telefon reichen würde, zerrann.
Das Verhältnis zur Mutter war schon immer schwierig gewesen. Sie war streng, kühl, unbarmherzig in ihren Worten. Berufliche Kinderpsychologin, hatte sie ihre Tochter zum Versuchskaninchen ihrer Theorien gemacht. Die Erziehung glich einer militärischen Ausbildung – mit Plan, Disziplin, Erwartungen. Von kindlicher Liebe keine Spur.
Sabine erinnerte sich, wie sie mit sechs Jahren in der Kälte geweint hatte:
„Mama, mir ist so kalt…“
„Stell dir vor, du bist die heiße Sonne, und lauf schneller“, war die Antwort.
Als Teenager wurde es schlimmer: ständige Vergleiche mit „den Kindern ihrer Freundinnen“, Vorwürfe, der Zwang, perfekt zu sein. Schule, Englisch, Nähen, Lesen, Sport – alles auf einmal. Keine Zuneigung. Nur Kontrolle. Selbst Erfolge wurden mit Kühle aufgenommen, als wäre es ihre Pflicht. Als Sabine das erste Mal bei ihrem Freund übernachtete, hieß es:
„So heiratet dich keiner mehr.“
Mit ihrem Bruder war die Mutter nachsichtiger. Er konnte tagelang verschwinden, während Sabine für Kleinigkeiten wochenlang Vorwürfe ertrug. Der Vater war nach der Scheidung nach Österreich gezogen, die Oma lebte mittlerweile bei Sabine in München, doch als die Mutter allein blieb, tauchte sie plötzlich in Frankfurt auf – ohne Papiere, nur mit ihrem Pass und einem Berg voller Vorwürfe. Bald darauf zog sie zu einem neuen Verehrer nach Köln, nachdem sie sich mit der Oma wegen der „zerstörten Ehe“ zerstritten hatte.
Männer fanden sie stets anziehend. Schön, selbstbewusst, klug. Doch sie blieben nie lange – sie hielten sie nicht aus. Auch Freundschaften zerbrachen. Niemand blieb – weder Männer noch Frauen. Nur Sabine blieb, wie ein Anker. Doch je älter sie wurde, desto mehr spürte sie, wie dieser Anker sie in die Tiefe zog.
Als sie sich selbst scheiden ließ und nach Hamburg ziehen wollte, sagte ihre Mutter:
„Du verlässt deine Kinder. Du bist keine Mutter.“
Seitdem redeten sie kaum noch. Manchmal schickte die Mutter Briefe: lang, poetisch, voller Entschuldigungen und Erinnerungen. Darin schien etwas Echtes durch, als könnte sie auf Papier die sein, die sie im Leben nicht sein konnte. Sabine las sie und hoffte: „Vielleicht ist diesmal alles anders…“
Doch der Kreislauf wiederholte sich. Briefe – Anruf – verletzende Worte – Schweigen.
Als die Mutter erkrankte – Parkinson, Gebrechlichkeit, Stürze – bestand der Bruder auf einem Pflegeheim. Ein Zimmer, Pfleger, Fürsorge. Doch selbst dort blieb sie, wie sie war: stets unzufrieden, beißend. Zum 85. Geburtstag versammelte sich die Familie – Kinder, Enkel. Sabine hatte ihre Mutter fünf Jahre nicht gesehen, nur per Video. Und dann, als sie sich endlich begegneten, sagte diese nur:
„Du hast hübsche Nägel. Machst du das oft?“
Mehr kam nicht. Alles, wozu die Mutter an diesem Tag fähig war.
Ein Jahr verging. Sie sprachen zweimal. Nun ging die Mutter nicht mehr ans Telefon – ob sie es nicht hörte oder nicht wollte, blieb offen. Der Bruder übermittelte bruchstückhafte Neuigkeiten, ohne Details.
In Hamburg wurde es dunkel. Drüben in Amerika war es Morgen. Sabine wählte erneut. Einmal. Zweimal. Das Pflegeheim. Die Rezeption. Vergebens. Sie fühlte gleichzeitig Schuld und Erleichterung. Und schrieb der Leiterin:
„Bitte richten Sie meiner Mutter herzliche Glückwünsche aus. Entschuldigen Sie, dass ich sie nicht persönlich erreichen konnte.“
Sabine sank aufs Sofa und blickte aus dem Fenster. Morgen würde sie sechzig. Und erst jetzt verstand sie wirklich: Es gibt Kämpfe, die man nicht gewinnen kann. Alles, was bleibt, ist die Hoffnung, dass tief im Innern die Mutter wusste, dass ihre Tochter sie liebte. Trotz allem.
Manchmal liegt der einzige Frieden darin, loszulassen – nicht weil es leicht ist, sondern weil es nötig ist.