Rückkehr zu mir selbst

**Die Rückkehr zu sich selbst**

Lukas betrat nach vielen Jahren wieder die Straße, wo einst sein Leben begann. Der schmale, an manchen Stellen eingesackte Bürgersteig tauchte wie aus einer fernen Vergangenheit auf, als er barfuß und glücklich dahinrannte, als wollte er mit der Sonne um die Wette laufen. Die Häuser standen noch genauso eng beieinander, als wärmten sie sich gegenseitig. Abblätternde Fassaden, schiefe Treppenstufen, der ewige Geruch von Kellerfeuchtigkeit und der leichte Duft billiger Seife – nichts hatte sich verändert, als hätte die Zeit diesen Ort vergessen.

Vor Haus Nr. 9 blieb er stehen. Sein Herz zog sich zusammen – vielleicht von Errinnerungen, vielleicht von Ahnung. Der Flur empfing ihn mit vertrautem Halbdunkel und dem Geruch von frischem Brot – oder war es nur die Erinnerung, die ihn täuschte? Hier im dritten Stock hatte er einst Lina Brenner zum ersten Mal geküsst – unbeholfen, ängstlich, mit zitternden Händen und stockendem Atem. Damals waren sie sechzehn und glaubten, das Leben liege vor ihnen, endlos wie ein Zugabteil, gefüllt mit Träumen und Versprechen.

Er stieg die Treppe hinauf, die Hand am Geländer, das sie als Kinder mit ihren Taschenmessern zerkratzt hatten. Wohnung 28. Eine neue Tür – schwer, aus Metall. Weder sie noch die Menschen dahinter interessierten sich dafür, dass hier früher abends gelacht, beim Abendessen diskutiert und mit Laken und Lichterketten Theater gespielt wurde. Jemand anderes lebte jetzt in seinen Erinnerungen. Und wusste wohl nicht einmal, dass Lukas in dem kleinen Zimmer gegenüber vom Balkon einst geschworen hatte, Pilot zu werden. Oder wenigstens im Traum fliegen zu lernen.

Er wollte klopfen. Einfach so. Um nach Wasser zu fragen oder ob das alte Spielzeug auf dem Dachboden noch da war. Doch er blieb stehen. Diese Tür öffnete sich nicht mehr für ihn. Sie war jetzt der Eingang zu einem fremden Leben, in dem es keinen Platz mehr für ihn gab.

Am Ausgang des Hauses saß ein etwa siebenjähriges Mädchen auf dem Bordstein. In der Hand hielt sie einen abgewetzten Teddy, dessen Ohr mit weißen Fäden angenäht war.

*„Onkel, haben Sie sich verlaufen?“*, fragte sie, ohne den Blick zu heben.

Lukas lächelte bitter, mit einem Kloß im Hals:

*„Vielleicht. Oder vielleicht habe ich endlich gefunden, wonach ich gesucht habe.“*

Sie nickte, ernst wie eine Erwachsene:

*„Hier sucht jeder etwas. Und vergisst dann, warum er gekommen ist.“*

Regen setzte ein – schwer, warm, nach Laub und Asphalt duftend. Er erinnerte an die Sommergewitter der Kindheit, als niemand einen Schirm hatte und alle sich über nasses Haar und Tropfen auf den Wangen freuten. Lukas trat hinaus in diesen Regen, als wäre es ein reinigender Schauer. Die Luft war dick von Feuchtigkeit und Gerüchen. Er ging langsam – am Tante-Emma-Laden vorbei, wo er mit Oma früher Lebkuchen kaufte, an der Schule vorbei, wo er zum ersten Mal für einen Mitschüler geprügelt hatte und begriff, dass Schmerz manchmal nicht für einen selbst, sondern für andere da ist.

An der Ecke stand noch derselbe alte Kiosk, jetzt mit frischen Graffitis bemalt. Drinnen roch es nach Bratfleisch. Lukas kaufte sich einen Döner – wie in seiner Jugend, als Glück so einfach war: warmes Fladenbrot, scharfe Soße und keine Last auf der Seele. Er setzte sich auf eine Bank unter einer Kastanie und beobachtete, wie der Regen von den Blättern tropfte, als weine die Erinnerung selbst – leise, dankbar.

Die Menschen eilten vorbei, versunken in Schirme, Handys, eigene Sorgen. Niemand erkannte ihn, niemand blieb stehen, niemand fragte. Und darin lag eine Befreiung. Er konnte niemand sein – und war gerade deshalb ganz er selbst.

Aus der Tasche zog er ein altes Notizbuch. Vergilbte Seiten, verblasste Einträge. Ganz vorne stand ein Satz, naiv und trotzig: *„Ich komme zurück, wenn ich weiß, wofür.“* Früher dachte er, es gehe um Ruhm, um Erfolg. Doch jetzt verstand er – er war zurückgekommen, um loszulassen.

Nicht für Antworten. Nicht für vergangene Siege. Nicht, um etwas zurückzuholen. Er war gekommen, um sich von dem Jungen zu verabschieden, der glaubte, die Zeit anhalten zu können. Von dem Jungen, der für immer in diesem Hof leben wollte, wo immer Sommer war, ein Ball rollte und der Duft von frisch gemähtem Gras hing.

Lukas stand auf. Die Regentropfen fühlten sich nicht mehr kalt an. Sie wuschen die letzten Reste von Angst, Schmerz und Wehmut von ihm ab. Er warf die leere Verpackung weg – kein Müll, sondern ein Symbol des Weges, den er gegangen war. Dann drehte er sich um und ging weiter – ohne Blick zurück. Mit Leichtigkeit im Schritt. Mit Vergebung im Herzen. Mit einer Stille, die nicht mehr wehtat.

Und jeder Schritt war jetzt neu. Nicht weg von der Vergangenheit – sondern hin zu sich selbst.

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Rückkehr zu mir selbst
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