Das unerwartete Glas Marmelade

Ein Glas Marmelade, auf das niemand wartete

Zuerst war sie einfach verschwunden. Die Frau aus dem vierten Stock – Liesel Bauer. Still, schmal, immer in einem langen Mantel mit nur einem einzigen Knopf, der lose an der Jacke baumelte, und einer Plastiktüte in der Hand. Auf den Tüten prangte das Logo des örtlichen Supermarkts, in ihren Augen lag eine seltsame Müdigkeit, die kein Schlaf vertreiben konnte. Sie ging schnell, als hätte sie es eilig, doch in Wahrheit hatte sie nirgendwo zu sein. Immer allein, bei jedem Wetter. Manchmal stand sie am Hauseingang und rauchte eine Zigarette – gierig, aber nur kurz, als fürchte sie, zu viel von sich preiszugeben. Und als sie verschwand, bemerkte es niemand. Vielleicht war sie krank. Vielleicht zu Verwandten gefahren. Oder, wie es andere taten, hatte sie eine Wohnungsrenovierung begonnen und lebte vorübergehend bei Freundinnen. In alten Plattenbauten gibt es unzählige solcher Geschichten. Nur die Bank am Eingang, die sie so gern genutzt hatte, blieb leer. Eine winzige Lücke im Alltag, die niemand mit Aufmerksamkeit füllte.

Außer Hans. Er war erst vor Kurzem eingezogen – Scheidung, Gerichtstermine, der Sohn blieb bei der Mutter. Den Job hatte er verloren. Alles war in einem Herbst zusammengebrochen. In dem neuen Haus schien alles fremd – vom abblätternden Aufzug bis zu den Nachbarn, die nicht grüßten. Nur Liesel sah ihm direkt in die Augen. Manchmal ließ sie einen Zettel vor seiner Tür liegen: »Ihr Stromzähler klappert wieder.« Oder: »Ein Brief von der Post lag für Sie unten, ich habe ihn aufgenommen.« Und einmal überreichte sie ihm ein Glas Marmelade – »zu viel, weiß nicht wohin damit.« Er öffnete es – der Geschmack war eigenartig, als wären die Früchte zu früh gepflückt. Die Marmelade war bitter. Doch er aß sie. Vielleicht aus Höflichkeit, vielleicht, weil zum ersten Mal seit Langem jemand Anteilnahme zeigte. Danach lauschte er den Schritten hinter der Wand. Er wartete darauf. Wie schnell gewöhnt man sich an das Leben eines anderen?

Nach ein paar Wochen bemerkte er einen Geruch. Unerträglich leise, aber irgendwie falsch. Der Art, bei der man selbst im Januar das Fenster öffnen möchte. Er klopfte an ihre Tür. Stille. Er wartete einen Tag. Er rief an. Schweigen. Dann holte er die Polizei. Die Tür wurde aufgebrochen.

Sie lag auf dem Boden im Flur, die Tüte daneben – Äpfel waren über das Laminat gerollt. Sie war wohl gestolpert. Der Arzt sagte: Herz. Oder Schlaganfall. Keine Anrufe, keine Notizen, keine Tränen.

Hans vergaß diesen Geruch lange nicht. Es war nicht der Geruch des Todes. Es war Einsamkeit. Sie roch nach altem Staub, nach Luft, in der kein Atem mehr schwang. Im Zimmer war alles ordentlich. Beschriftete Bücher, sauberes Geschirr, ein Fensterbrett mit kleinen Kakteen. Jeder trug ein Pappschild mit einem Namen. Als hätte sie in einem Ein-Personen-Theater gelebt. Und niemand suchte sie. Niemand. Keine Familie. Keine Nachbarn. Nur Hans meldete es beim Hausverwalter. Allein im ganzen Viertel.

Drei Monate vergingen. Er wachte nachts auf. Gedanken kamen bruchstückhaft, ohne Anfang oder Ende, hinterließen das Gefühl, etwas versäumt zu haben. Er rauchte am Fenster, starrte auf das dunkle, leere Glas ihrer Wohnung. Schwarz wie eine Bühne nach der Vorstellung. Doch eines Tages flammte dort Licht auf.

Er ging hinauf. Klopfte. Wollte schon gehen – da öffnete sich die Tür. Eine junge Frau stand da. Rotes Haar, schmale Handgelenke, Augen – sehr ähnlich. Sie sah nicht ihn an, sondern durch ihn hindurch. In die Wohnung. In die Vergangenheit.

»Ich bin die Nichte«, sagte sie. »Liesel war meine Tante. Räume ihre Sachen weg. Möchten Sie reinkommen?«

Er trat ein. Alles war anders – die Vorhänge, der Geruch, die Wände. Doch die Luft… die Luft trug noch immer die Spur der Marmelade. Und der Einsamkeit. Die Frau hieß Greta. Sie kam aus Köln. Erzählte, sie hätten sich jahrelang nicht gesehen – gestritten, wegen einer Lappalie. Dann sah sie eine Anzeige und wusste – zu spät. Fast nichts war geblieben: ein paar Kartons, Fotos, Bücher. Und ein altes Poesiealbum mit Stickern. Sie hielt es auf den Knien, strich mit den Fingern über den Einband. Als suchte sie darin nach einer Spur von Vergebung.

Sie sprachen. Hans bot an, ihr mit den Sachen zu helfen. Dann – Tee. Sie blieb eine Woche. Dann zwei. Mietete eine Wohnung im Nachbarhaus. Sie begannen, sich zu treffen. Ohne Pathos. Ohne Dramatik. Einfach – still. Er fing wieder an zu schreiben, sie handelte mit Büchern. Zusammen fuhren sie ans Meer. Dann – nach Köln.

Und eines Tages fand er ein Glas Marmelade. Im obersten Regal. Ohne Etikett. Genau dasselbe. Die Marmelade war wieder bitter. Er aß sie schweigend. Ohne Brot, ohne Zucker. Einfach Löffel für Löffel. Es war – für sie. Für Liesel. Für ihre unausgesprochene Güte. Dafür, wie man verschwinden kann, ohne eine Lücke zu hinterlassen. Wie man bleiben kann – in einem Glas Marmelade. Im Geruch. In einem Schritt. In der Erinnerung.

Manche Menschen kommen, nicht um zu bleiben, sondern um dich zu erinnern – dass du noch lebst. Und wenn du selbst vergessen hast, wie man man selbst ist, klopfen sie an. Nicht an die Tür. An die Seele.

Manchmal stieg er noch immer zu ihrer Tür hinauf. Einfach, um dazustehen. Einfach, um zu erinnern. Einfach – zu sein. Manchmal mit Blumen. Manchmal – mit Marmelade. Und das reichte.

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Wenn das Leben eine zweite Chance schenkt