Das unerwartete Glas Marmelade

Die Marmeladenglas-Affäre

Zuerst war sie einfach weg. Die Frau aus dem vierten Stock – Beate Schäfer. Still, schmal, immer in einem langen Mantel, der mit einem einzigen Knopf zusammengehalten wurde, und einer Plastiktüte in der Hand. Auf der Tüte prangte das Logo des örtlichen Supermarkts, in ihren Augen lag eine seltsame Müdigkeit, die nicht mal Schlaf vertreiben konnte. Sie ging zügig, als hätte sie es eilig, doch eigentlich hatte sie nirgendwohin zu müssen. Immer allein, bei jedem Wetter. Manchmal stand sie vor dem Haus und rauchte – hastig, aber nur kurz, als fürchte sie, zu viel von sich preiszugeben. Als sie verschwand, bemerkte es niemand. Vielleicht war sie krank. Vielleicht bei Verwandten. Oder, wie es bei anderen vorkam, sie renovierte und wohnte vorübergehend bei Freundinnen. In alten Neunstöckern gibt es unzählige solcher Geschichten. Nur die Bank vor dem Haus, auf der sie gern gesessen hatte, blieb leer. Ein kleiner Riss im Alltag, den niemand mit Aufmerksamkeit flickte.

Außer Markus. Er war erst kürzlich eingezogen – Scheidung, Gerichtstermine, sein Sohn blieb bei der Mutter. Den Job hatte er verloren. Alles war in einem Herbst zusammengebrochen. In dem neuen Haus kam ihm alles fremd vor – vom abblätternden Aufzug bis zu den Nachbarn, die nicht grüßten. Nur Beate – sie sah ihm direkt in die Augen. Manchmal legte sie ihm Zettel vor die Tür: „Ihr Stromzähler klackert schon wieder.“ Oder: „Ein Brief für Sie lag unten, ich hab ihn hochgebracht.“ Einmal überreichte sie ihm ein Glas Marmelade – „habe zu viel, weiß nicht wohin damit.“ Er öffnete es – der Geschmack war eigenartig, als wären die Früchte zu früh gepflückt. Die Marmelade war bitter. Aber er aß sie. Aus Höflichkeit vielleicht. Oder weil es das erste Mal seit langem war, dass sich jemand um ihn scherte. Danach horchte er auf die Schritte hinter der Wand. Er wartete darauf. Wie schnell gewöhnt man sich an das Leben eines Fremden?

Nach ein paar Wochen roch es. Ein kaum wahrnehmbarer, aber unheilvoller Geruch. Der Sorte, die einen im Januar das Fenster aufreißen lässt. Er klopfte. Stille. Er wartete einen Tag. Klingelte. Nichts. Die Polizei kam, die Tür wurde aufgebrochen.

Sie lag im Flur, die Tüte daneben – Äpfel verstreut über den Laminatboden. Sie war wohl gestolpert. Der Arzt sagte: Herzschlag. Oder Schlaganfall. Keine Anrufe, keine Zettel, keine Tränen.

Markus bekam den Geruch nicht mehr aus dem Kopf. Es war nicht der Geruch des Todes. Es war Einsamkeit. Sie roch nach altem Staub, nach Luft, in der kein Atem mehr schwang. In der Wohnung war alles ordentlich. Beschriftete Bücher, sauberes Geschirr, ein Fensterbrett mit kleinen Kakteen. Jeder hatte ein Namensschild. Als lebte sie in einem Einpersonenstück. Und niemand suchte sie. Niemand. Keine Familie. Keine Nachbarn. Nur Markus meldete es der Hausverwaltung. Der Einzige im ganzen Viertel.

Drei Monate vergingen. Er wachte nachts auf. Gedanken kamen bruchstückhaft, ohne Anfang oder Ende, als hätte er etwas verpasst. Er rauchte am Fenster, starrte auf das dunkle Glas ihrer Wohnung. Schwarz wie eine Bühne nach dem letzten Akt. Bis eines Tages Licht darin aufflammte.

Er ging hinauf. Klopfte. Schon wollte er gehen – da öffnete sich die Tür. Eine junge Frau stand da. Rote Haare, schmale Handgelenke, Augen, die ihr sehr ähnlich sahen. Sie blickte nicht ihn an, sondern durch ihn hindurch. In die Wohnung. In die Vergangenheit.

„Ich bin ihre Nichte“, sagte sie. „Beate war meine Tante. Räume gerade aus. Möchten Sie reinkommen?“

Er trat ein. Alles war anders – Vorhänge, Geruch, Wände. Aber die Luft… sie roch noch immer nach Marmelade. Und Einsamkeit. Die Frau hieß Katrin. Sie kam aus Aachen. Erzählte, sie hätten sich jahrelang nicht gesehen – wegen einer Lappalie zerstritten. Dann hatte sie eine Zeitungsnotiz gesehen und verstanden: zu spät. Fast nichts war geblieben: ein paar Kartons, Fotos, Bücher. Und ein altes Poesiealbum mit Stickern. Sie hielt es auf dem Schoß, strich über den Einband. Als suchte sie darin nach Vergebung.

Sie kamen ins Gespräch. Markus half ihr mit den Kisten. Dann gab es Tee. Sie blieb eine Woche. Dann zwei. Mietete eine Wohnung um die Ecke. Sie begannen, sich zu treffen. Ohne Getue. Ohne Drama. Ganz leise. Er schrieb wieder, sie verkaufte Bücher. Sie fuhren ans Meer. Später nach Aachen.

Dann fand er das Marmeladenglas. Ganz oben im Regal. Ohne Etikett. Genau wie damals. Die Marmelade war wieder bitter. Er aß sie schweigend. Ohne Brot, ohne Zucker. Einfach Löffel für Löffel. Es war – für sie. Für Beate. Für ihre unausgesprochene Güte. Dafür, wie man verschwinden kann, ohne wirklich fort zu sein. Wie man bleiben kann – in einem Glas Marmelade. In einem Geruch. In einem Schritt. In der Erinnerung.

Manche Menschen kommen nicht, um zu bleiben. Sondern um dich zu erinnern – dass du noch lebst. Und wenn du vergessen hast, wie man sich selbst ist, klopfen sie an. Nicht an die Tür. An die Seele.

Manchmal stand er noch immer vor ihrer Tür. Einfach so. Um zu erinnern. Um da zu sein. Manchmal mit Blumen. Manchmal mit Marmelade. Und das reichte.

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