**Die Treppe ins Nichts**
Noch nie hatte es so früh geklingelt. Und schon gar nicht bei ihm, bei Dr. Hartmut Schröder, einem Hausarzt mit dreißig Jahren Berufserfahrung, dessen Tage stets nach strengem Plan verliefen: Um 7:15 Uhr eine Tasse starken Tee, die Zeitung, ein gemütlicher Spaziergang zur Praxis. Alles war berechenbar wie ein Schweizer Uhrwerk. Doch nicht heute. Um 5:42 Uhr – eine Zeit, in der selbst die Stadt noch schläft, eingewickelt in dicke Stille – schrillte das Telefon, schroff wie eine grobe Naht.
Er stand auf, warf die Decke zurück, fand seinen Bademantel im Dunkeln und hob ab, ohne das Licht einzuschalten.
„Ja?“
„Hier ist Gisela Meier… aus der Wohnung 16… Sie erinnern sich vielleicht nicht. Mein Nachbar, Markus… er… ich glaube, er ist tot.“
Die Stimme klang brüchig, wie eine abgespielte Kassette am Rande des Zerfalls. Keine Spur von Hysterie – nur Verwirrung und Angst, als wäre alles nicht echt, sondern ein Albtraum, aus dem man nicht erwachen kann.
„Rufen Sie den Notarzt“, antwortete Dr. Schröder, wissend, dass es wahrscheinlich schon zu spät war.
„Ich traue mich nicht allein hin… Er ist im Keller. Er sagte, das Licht geht nur bis sechs. Er wollte, dass ich Sie hole, wenn etwas passiert…“
Er schwieg, atmete schwer, als stünde er vor einem Zimmer, in dem man nicht mehr kämpft, sondern nur noch wartet. Er wusste: Jetzt begann etwas, weder Studium noch Berufsjahre hatten ihn darauf vorbereitet.
„Er sagte, wenn ich ein Knirschen höre – dann ist es vorbei…“, flüsterte sie.
Da wusste der Arzt: Schlaf würde es heute nicht mehr geben.
Vierzig Minuten später stand er vor einer alten Plattenbauwohnung am Rand von Magdeburg. Das Haus sah aus, als hätte es sich vor Müdigkeit zusammengekauert: abblätternder Putz, verblasste Fenster, eine drückende Stille. Gisela empfing ihn im dünnen Morgenmantel, die Ärmel über die Hände gezogen, der Blick gesenkt.
„Gestern sagte er, jemand rufe ihn aus dem Keller. Ich lachte nur… Doch dann, nachts… ein Schrei. Ein Knirschen. Und plötzlich – nichts mehr.“
Sie sprach fast unhörbar, als fürchte sie, die Wände hörten mit. Hartmut nickte. Ohne Worte.
Der Keller lag auf der Rückseite. Zerbrochene Stufen, eine eiserne Tür ohne Schloss, die im Wind schwankte. Er umklammerte die Taschenlampe, presste die Zähne zusammen. Stieg hinab.
Es roch nach Feuchtigkeit, Schimmel, als hätte dieser Ort seit Jahren keinen Menschen mehr gesehen. Das Licht flackerte und erlosch. Er schaltete die Lampe ein. Der Strahl erfasste Kartons, Spinnweben, altes Mobiliar und… eine Gestalt.
Ein Mann hockte da, mit dem Rücken zur Wand. Der Mantel stand offen, die Hände kraftlos auf den Knien. Hartmut trat näher. Sein Herz schlug dumpf.
„Markus?“
Stille. Erst als er fast heran war, zuckten dessen Schultern.
„Ich höre sie“, flüsterte der Mann. Die Stimme fremd, als spräche jemand anderes aus ihm heraus.
„Wen?“
„Die, die unten geblieben sind… Unter uns. Sie flüstern. Sie erinnern sich. Warten. Sie wissen alles über jeden…“
Er drehte den Kopf. Seine Augen – leer, wie ausgeglühtes Glas. Hartmut legte die Hand auf seine Schulter. Keine Reaktion.
„Es ist zu spät“, murmelte Markus. „Ich werde sie heraflassen.“
Dann – aus der Tiefe des Kellers – ein Knirschen. Lang. Metallisch. Durchdringend. Und Hartmut Schröder hörte es auch. Er zitterte. Nicht aus Angst, sondern weil er wusste: Man vergisst so etwas nicht.
Der Rettungswagen kam fünfzehn Minuten später. Markus wurde bewusstlos, aber lebend gefunden. Diagnose: akute Psychose bei schwerer Depression, verstärkt durch Schuldgefühle. Der diensthabende Arzt schrieb es mechanisch auf, ohne nachzufragen. Niemand wollte wissen, was der Mann unter der Treppe gehört hatte.
Hartmut ging nicht nach Hause. Er setzte sich vor den Kellereingang. Zündete sich eine Zigarette an – das erste Mal seit zwanzig Jahren. Zog langsam am Rauch, als atme er fremden Schmerz ein. Er dachte nicht nur an Markus. Er dachte an sich selbst. Daran, dass in jedem von uns mit den Jahren eine Treppe nach unten entsteht. Mal schmal, kaum sichtbar. Mal breit und steil. Vor allem: ohne Geländer.
Und daran, wie wichtig es ist, dass im dunkelsten Moment jemand da ist, der hinterhergeht. Nicht, um zu retten. Einfach nur, um dabei zu sein. Damit das Knirschen nicht allein ertönt.
Er drückte die Zigarette aus. Trat hinaus auf die Straße. Der Morgen war grau, doch in diesem Grau lebte schon Licht. Und Hartmut Schröder wusste: Heute wurde er gebraucht. Wenigstens von irgendwem. Wenigstens von sich selbst.