**Blaue Briefe aus der Vergangenheit**
Als Andreas den Brief im Briefkasten fand, wusste er sofort – das war keine Rechnung, keine Werbung und gewiss kein Schreiben der Hausverwaltung. Der Umschlag war fest, mattblau, mit abgenutzten Ecken und dem Geruch vergangener Zeiten. Das Papier erinnerte an den Einband eines alten Buches, das lange auf dem Dachboden gelegen hatte. Auf der Rückseite standen nur zwei Buchstaben: „E.S.“. Die Schrift war fein, leicht nach rechts geneigt, wie von jemandem, der immer wusste, was er sagen wollte, aber nie in Eile war.
Er öffnete ihn nicht sofort. Er ging die Treppe hinauf in seine Wohnung, legte den Brief aufs Fenster, setzte sich, stand wieder auf. Schweigend kochte er Tee, wusch die Tasse bis sie quietschte, trocknete sie mit einem alten Handtuch ab. Seine Gedanken wirbelten, doch einer klang besonders deutlich: „Wer schreibt heutzutage noch Briefe?“ Vor allem – an ihn. Und vor allem – so.
Als er endlich das vierteilig gefaltete Blatt entfaltete, schien die Luft im Zimmer dichter zu werden. Das Papier war dünn, leicht vergilbt, mit einem Hauch von Tinte und etwas Unfassbarem – als käme es aus einer anderen, längst vergessenen Kindheit. Der Text war kurz. Doch in diesen Zeilen lag mehr als in hundert Gesprächen:
„Andreas. Mir träumte von jenem Tag auf dem Bahnsteig. Du standest mit deinem Rucksack, ich mit meiner Fahrkarte. Ich bin damals nicht gefahren. Ich konnte einfach nicht. Doch du warst schon gegangen. All das ist geblieben. Alles – blau. Wenn du dies liest, bin ich nicht mehr da. Aber die Briefe – sie sind geblieben. Im Haus an der alten Brücke. Sie gehören dir. E.S.“
Er las es einmal, dann noch einmal. Saß still. Dann lief er durch das Zimmer, als liefe er im Kreis. In ihm bebte etwas – nicht aus Angst, sondern aus der plötzlichen Rückkehr eines Schmerzes, den er längst vergessen hatte, wie man den Geruch des Elternhauses vergisst, wenn man auszieht. Das war Eva. Seine Eva. Die, die Musik zu laut hörte und Gedichte vorlas, als wären sie ein Schild gegen die Welt. Die, bei der sich immer eine Haarsträhne ins Gesicht fiel. Er erinnerte sich an jedes Detail.
Vor fünfzehn Jahren verbrachten sie jeden Sommer zusammen. Eva wohnte in einem kleinen Haus am Rande des Dorfes Lindheim, nahe der alten Brücke über den Fluss. Sie hatte einen Hund – einen riesigen Köter namens Plüsch, der wie ein stummer Wächter an ihren Füßen lag. Im Sommer fuhren sie mit dem Boot, tranken Hagebuttentee aus der Thermoskanne und redeten über Belanglosigkeiten, die plötzlich das Wichtigste schienen. Sie hörte ihm zu, selbst wenn er schwieg. Und er verliebte sich in jede ihrer Stille.
Er erinnerte sich an jenen Tag am Bahnhof in Görlitz. Es war schon kühl, Blätter klebten am Boden, Eva stand in einem alten grünen Mantel. Er sagte: „Du fährst weg.“ Und sie nickte. Ihre Lippen zitterten, doch kein Wort kam. Er drehte sich um und ging. Und alles, was in ihm blieb – wurde blau. Jetzt wusste er, wie man das nannte.
Das Haus stand noch immer da. Nur etwas schief, die Fenster hinter dicken Vorhängen, Moos auf den Stufen, abgeblätterte Farbe am Geländer. Doch das Gartentor öffnete sich, als wäre nie Zeit vergangen. Der Schlüssel – unter dem Stein beim Flieder. Es traf ihn wie ein Schlag – als hätte jemand all diese Jahre auf ihn gewartet. Drinnen roch es nach Kräutern, alten Büchern und… nach ihr. Die Luft schien zu wissen, wer hereinkam.
An der Wand – eine Landkarte mit Stecknadeln. Zu jeder ein Zettel. „Du warst hier.“ Oder ein Datum. Oder einfach nur: „Ich habe gewartet.“ Im Schrank, hinter einer ausgebleichten Decke, fand er eine Schachtel. Darin – Dutzende Briefe. Alle auf blauem Papier. Mit blauer Tinte. Mit blauen Rändern. Als wären sie in der Dämmerung geschrieben, im Warten, in der Hoffnung, dass sie eines Tages ihren Empfänger finden würden.
Er setzte sich auf den Boden. Fing an zu lesen. Der Kloß in seiner Kehle wuchs. Die Briefe waren sie. Ihre Stimme schwang in jeder Zeile mit. „Andreas. Heute dachte ich an dein Lachen.“ – „Andreas, du kamst wieder im Traum. Ich wachte weinend auf.“ – „Andreas, ich bin wütend, dass du zuerst gingst. Aber ich liebe dich trotzdem.“ Ein Brief war zerrissen und wieder zusammengeklebt. Unten stand: „Verzeih mir.“
Er blieb über Nacht im Haus. Zündete eine Kerze an, lauschte den knarrenden Dielen. Am Morgen stand er mit der Schachtel in der Hand auf der Veranda. Blickte auf das Wasser. Es war still, wie der Brief, der zu spät gekommen war. Er wusste nicht, warum Eva sie aufgehoben hatte. Vielleicht – wusste sie, dass er eines Tages zurückkommen würde. Er war zurückgekommen.
Einen Tag später nahm er die Briefe mit nach Berlin. Hielt die Schachtel im S-Bahn-Zug auf den Knien, als fürchte er, sie fallen zu lassen. Abends kochte er Tee, breitete die Briefe auf dem Tisch aus. Kaufte ein Album – blau, aus Stoff, wie ein Poesiealbum. Er legte die Briefe in Klarsichthüllen. Einen nach dem anderen. Beschriftete es: „E.S. – 2003–2008“.
Und dann, nach all den Jahren, schrieb er zum ersten Mal ein Gedicht. Mit der Hand. In blauer Tinte. Die Zeilen waren klar, ruhig. Es enthielt nicht die Worte „Liebe“ oder „Schicksal“. Aber es enthielt alles. Ohne Beschönigung. Einfach die Wahrheit.
Er steckte das Blatt in einen Umschlag. Adressierte ihn an eine Adresse, die nicht mehr existierte. Schickte ihn ab. Einfach so. Um abzuschließen. Oder neu anzufangen.
Manchmal kommen Briefe zu spät. Aber manchmal genau dann, wenn sie gebraucht werden. Selbst wenn niemand mehr da ist, um sie zu lesen.