Das Ungelebte

Was nicht gelebt wurde

Zuerst verschwanden die Briefe. Dann die Fotos. Und schließlich begann sogar Hildegard Scholz selbst zu verblassen, wie ein altes Bild, das man im Regen auf der Fensterbank vergessen hat. Sie wohnte noch immer in ihrer Plattenbauwohnung im alten Viertel von Leipzig, kochte Wasser im emaillierten Kessel, wusch Taschentücher von Hand und sammelte Kleine Münzen in einer leeren „Jakobs Krönung“-Dose. Aber ihr Blick war anders geworden – gläsern, abwesend. Als sei ihr Körper noch hier, während ihre Seele längst vorausgegangen war. Und ihre Augen verweilten immer öfter in der Leere, als erwarte sie jemanden. Jemanden, der nicht zurückkehren würde. Den niemand mehr vermisste.

Als Lina Ende September ihre Oma besuchte, roch es im Treppenhaus nach alter Seife, nassem Putz und dem Kotlett von gestern. Die Stufen knarrten bei jedem Schritt, die Farbe auf dem Geländer war bis aufs Metall abgeblättert, und an der Wand neben dem Aufzug stand mit Marker geschrieben: „Hier lebte einst die Liebe.“ Die Oma öffnete nicht sofort. Sie schaute lange durch den Spion, als müsse sie nicht erinnern, sondern erst erkennen.

„Ich dachte, du wärst weg“, sagte sie verwirrt und betrachtete ihre Enkelin wie durch Milchglas.

„Ich bin erst gekommen, Oma“, lächelte Lina. „Ich hab dich vermisst. Und … ich wollte etwas finden. Erinnerst du dich an die Briefe von Opa?“

Die Oma schwieg. Es schien, als verstünde sie nicht. Ihre Hand mit der Wasserflasche zitterte leicht, als sie den Kessel füllte. Ein paar Tropfen fielen auf den Tisch und blieben dort – ungewischt.

„Welche Briefe?“ Ihre Stimme klang, als vergesse sie nicht zum ersten Mal das Wichtigste.

„Die, die er dir geschrieben hat. Aus der Armee, später auch danach. Du hast gesagt, sie lägen in der Knopfschachtel. Mit dem blauen Deckel.“

Die Oma runzelte die Stirn. Schließlich flüsterte sie:

„Es war alles wie im Nebel. Als hätte jemand nachts meine Erinnerungen genommen. Etwas war da … und plötzlich war es fort.“

„Vielleicht willst du dich nicht erinnern?“, fragte Lina vorsichtig. „Ich bin nicht böse. Ich muss nur verstehen. Mich verstehen.“

In der Nacht, als die Oma schlief, suchte Lina leise im Zimmer. Durchwühlte Schubladen, öffnete Schachteln. Fand die mit den Knöpfen: Knöpfe, alte Nadeln, Garnrollen. Aber keine Briefe. Nur in einer Ecke – ein abgenutzter Ankerknopf. Sie drückte ihn in ihrer Hand. Warum tat sie das so fest?

Am Morgen beobachtete die Oma sie argwöhnisch.

„Du hast nachts etwas gesucht. Ich hab dich gehört. Wieder deine Fragen?“

„Ich suche keine Dinge, Oma“, sagte Lina müde. „Ich suche, wo ich angefangen habe.“

Hildegard Scholz senkte den Blick. Dann, plötzlich:

„Weißt du, wie er gestorben ist?“

Lina erstarrte.

„Man sagte, in der Fabrik. Herzinfarkt. In der Mittagspause …“

„Lüge“, unterbrach die Oma. Ihre Stimme blieb ruhig, doch ihre Augen glänzten. „Er ging in den Wald. Ohne Worte. Ohne Zettel. Und kam nicht zurück. Wir suchten. Meldeten es der Polizei. Suchten eine Woche. Dann … hörten wir auf.“

„Warum hast du nie davon erzählt?“

„Weil du klein warst. Ich wollte nicht, dass du Angst hast. Jetzt bist du erwachsen. Also ist es Zeit, es zu wissen. Aber pass auf: Die Wahrheit erleichtert nicht immer. Manchmal ist sie wie ein Stein.“

Schweigen. Draußen bellte ein Hund. Unten knallte eine Tür. Die Zeit verging, gleichgültig. Und auf dem Tisch zwischen ihnen lag ein altes, verblichenes Foto. Linas Opa – jung, mit einem Hauch von Lächeln, als zweifle er, ob er hier stehen sollte. Im Halbprofil, Mantel offen, und in seinen Augen eine unfassbare Traurigkeit.

„Er war stark“, flüsterte Lina. „Und ich dachte, Starke gehen nicht.“

„Das war er auch. Nur … nicht für den ganzen Weg. Manchmal brechen auch Stille. Nur leiser.“

Die Oma blickte zum Fenster. Die Sonne fiel durch die zerschlissenen Gardinen. Das Licht traf ihr Gesicht, und für einen Moment wirkte sie durchsichtig wie ein Schatten.

Beim Abschied umarmte sie Lina plötzlich fest. Ungewöhnlich fest. Als fürchte sie, dies sei für immer.

„Nimm die Schachtel mit. Ich weiß nicht mehr, was drin ist. Vielleicht erinnerst du dich für uns beide …“

Lina fuhr abends zurück. In der S-Bahn öffnete sie die Schachtel auf ihren Knien. Fäden, Zeitungsschnipsel, alte Streichhölzer. Und – ein Zettel. Ein schmaler Streifen Papier, fast zerbröselnd, mit Tinte, die von Tränen oder Regen verwischt war. Drei Zeilen.

»Verzeih. Ich konnte nicht. Lebt, wie ich nicht lebte. Vielleicht schafft ihr es.«

Lina weinte nicht. Sie drückte das Papier an ihre Brust und starrte aus dem Fenster. Draußen – die Nacht, dunkel wie Erde und ebenso vertraut. Bahnhöfe flogen vorbei, vereiste Laternen, Schatten von Bäumen. Alles klanglos. Als halte das Leben den Atem an, um Platz zu machen für etwas Wichtiges.

Manchmal muss man alles Versteckte hervorholen, um sich selbst zu finden. Alles, was man vor dir verborgen hat – aus Liebe, aus Scham, aus Angst. Manchmal ist es das Einzige, was dich zu dir macht. Was sie nicht mehr lebten – und was du jetzt vielleicht leben musst.

Оцените статью