Der Pfiff, den sie doch vernahm.

Der Pfiff, den sie doch noch hörte

Ute Margarete hörte ihn zehn Minuten, bevor der Zug aus der Kurve bog. Ein dumpfer, langer Pfiff, als wäre er der Erde entrissen worden. Er erschallte seit dreißig Jahren jeden Frühling, jeden Herbst, jeden Tag – immer zur selben Stunde. Und jedes Mal zog sich etwas Lebendiges in ihr zusammen, gespannt, nicht loslassend. Als ob ihr Herz sie erinnerte: Jetzt ist es wieder soweit. Wieder er.

Sie stand auf der Veranda ihres hölzernen Hauses am Rande von Rothenburg, eine Tasse starken Tee in den Händen, und beobachtete, wie der Staub über dem Bahndamm aufwirbelte. Der Wind strich durch die feinen Strähnen ihres grauen Haares, und der warme Dampf des Tees stieg ihr ins Gesicht. Hinter ihr – das Haus, in dem längst alles erstarrt war: die Uhr, die auf 14:15 stehengeblieben war, die alten Fotos in Holzrahmen, der Geruch der Zeit und die lauernde Stille. Früher war hier Geschrei, Gelächter, das Klappern von Töpfen, das Zuschlagen von Türen. Jetzt – nur noch ihre Schritte und das Knarren der Dielen unter ihren Füßen.

Der Zug raste vorbei, Metall dröhnte, und in seinen Fentern sah sie nur Schatten, Spiegelungen, fremde Gesichter. Trotzdem spähte sie. In jedes Fenster. In jeden Schatten. Und für einen Augenblick – wie ein Blitz, wie eine Täuschung – meinte sie, eine vertraute Silhouette zu erkennen. Ihr Herz zuckte. Dann – Leere. Leere, wie immer.

Vor dreißig Jahren, im Frühling, hatte sie auf diesem Bahnsteig ihren Sohn verabschiedet. Michi. Mit seinem Rucksack auf dem Rücken und seinen unbeholfenen, unpassenden Witzen. Er hatte gelacht, gewinkt, und sie versuchte, sich alles einzuprägen: seine Schultern, seine Stimme, das Muttermal an der Lippe. Er versprach, zu schreiben. Die ersten Briefe kamen – selten, aber lebendig. Dann immer seltener. Und schließlich – Schweigen. Nach dem Wehrdienst kehrte er nicht zurück. Man suchte. Schrieb. Telefonierte. Hoffte. Bis man aufhörte.

Doch sie – sie konnte nicht. Sie glaubte nicht. Sie akzeptierte es nicht. Tief im Herzen war Ute Margarete sicher: Wäre er tot, hätte sie es gespürt. Der Wind hätte sich verändert. Das Haus hätte anders geatmet. Und der Tee hätte nicht mehr gerochen wie früher. Sie wusste – irgendwo war er. Lebendig. Nur konnte er nicht zurückkommen. Oder wagte es nicht. Oder erinnerte sich nicht. Dieses „vielleicht“ hielt sie all die Jahre aufrecht. Es wurde zu einem Gebet, zum Schlagen ihres Herzens, zu ihrem Atem.

Die Leute im Dorf hatten sich daran gewöhnt. Manche spotteten: „Die wartet immer noch auf ihren Verschollenen.“ Andere hatten Mitleid. Doch niemand trat an ihre Veranda. Als fürchteten sie sich, von ihrem Warten angesteckt zu werden. Als wäre ihr Glaube gefährlich.

Jeden Tag, genau um 15:47, trat sie hinaus. Um den Pfiff zu hören. Um danach wieder in die Stille zu versinken. Manchmal schloss sie die Augen, damit das Licht sie nicht störte. Und lauschte, wie der Zug hinter der Kurve verschwand und nur ein Zittern in der Luft und den Schmerz in ihrer Brust zurückließ.

Eines Tages, an einem klaren Maitag, erschien ein Fremder auf dem Bahnsteig, hundert Meter von ihrem Haus entfernt. Jung, groß, mit einem Rucksack. Er ging langsam, als wüsste er genau, dass ihn jemand erwartete. Sie stürzte von der Veranda. Barfuß, im Hausmantel, ohne die Steine zu spüren, die ihre Füße zerkratzten. Ihr Herz pochte, die Lippen zitterten, die Augen tränten – sie hatte seinen Namen fast ausgesprochen, ehe sie stehenblieb. Er drehte sich um. Nein. Nicht er. Ein fremdes, höfliches Gesicht. Er lächelte verlegen:

„Entschuldigung … Sie verwechseln mich wohl?“

Und ging weiter. Ohne sich umzudrehen.

Ute stand lange da. Bis er im Grün hinter der Straße verschwand. Dann ging sie langsam zurück. Mit jedem Schritt erstickte sie das, was in ihr aufgestiegen und sofort wieder zusammengebrochen war. Sie schämte sich – für ihre nackten Füße, für die zitternden Finger, für den Glauben, der sie wieder betrogen hatte. Und es tat weh – auf eine besondere Art. Als hätte man ihr etwas fortgerissen. Oder sie selbst hätte losgelassen.

In dieser Nacht schlief sie nicht. Zum ersten Mal seit Jahren dachte sie: Vielleicht ist er wirklich nicht mehr? Und wenn doch – warum konnte sie dann nicht loslassen? Warum lebte in ihr noch immer der Rhythmus dieses Pfiffs? Warum riss ihr Herz sich noch immer ans Fenster, wenn sie den Zug näherkommen hörte?

Zwei Monate später kam ein junger Mann zu ihr. Höflich, mit klugen Augen und einem Brief von einer Wohltätigkeitsorganisation. Sie wollten einen Film drehen – über die, die warteten. Die nicht vergaßen. Die davon lebten. Er sprach leise, vorsichtig, als fürchtete er, sie zu zerstören. Sie schwieg. Ein paar Tage lag der Brief auf dem Fensterbrett. Dann willigte sie ein. Weil sie spürte: Sie musste.

Man filmte sie, stellte Fragen. Sie antwortete. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten erzählte sie von Michi. Wie er nach Flieder und Bonbons roch. Wie er als Kind mit einem Stock durch den Garten rannte und sich ein Schwert daraus machte. Wie er Äpfel stahl und dann einen Zettel hinterließ: „Entschuldigung.“ Wie er einmal mit zerkratztem Gesicht heimkam, weil er einen Welpen beschützt hatte. Sie lachte. Weinte. Redete und sah auf das Foto – das eine, wo er im Sonnenlicht vor dem Schuppen stand. Auch der Kameramann weinte. Schaltete die Kamera aus – nicht aus Höflichkeit, sondern weil es nicht anders ging.

Dann kam ein Brief. Ein richtiger. Auf Papier. Mit Briefmarke. Er roch nach Zug, nach Schienen, nach Zeit. Die Handschrift war fremd. Aber schon die ersten Worte machten es klar:

„Mama. Wenn du noch lebst … Wenn du noch verzeihen kannst … Ich war dort. Hab dich gesehen. Den Haken an der Tür. Die Tasse. Ich konnte nicht näherkommen. Es fehlte der Mut. Ich war in diesem Fenster. Verzeih, dass es so lange gedauert hat. Ich schreibe wieder. Lass es nur zu …“

Sie las ihn immer wieder. Langsam, laut. Drückte ihn an ihre Brust. Weinte nicht. Aber zitterte. Innen drin zitterte alles. Dann stand sie auf. Machte Tee. Zog ihre alte Strickjacke an. Trat auf die Veranda.

Es war 15:42.

Die Luft war anders. Weicher. Klarer. Der Wind bewegte die alten Vorhänge am Fenster. Und als hinter dem Horizont der Pfiff erklang – zum ersten Mal seit dreißig Jahren zuckte sie nicht zusammen. Sie lächelte.

Leise. Wie jemand, der gewartet hat. Oder dem man endlich glaubte, dass Warten sich lohnen kann.

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Der Pfiff, den sie doch vernahm.
Licht im Fenster