In einem kleinen Städtchen an der Ufer der Elbe wurde eine Hochzeit vorbereitet. Lina, eine junge Chorleiterin, stand kurz vor ihrem Abschluss am Musikkonservatorium. Ihre Stimme, durch Jahre des Studiums geschliffen, funkelte wie ein Edelstein – rein und kraftvoll. Nur die Besten wurden an dieser Schule aufgenommen, diejenigen, deren Gesang einem das Herz stillstehen ließ. Und Lina gehörte dazu – ihre Stimme strahlte wie ein Diamant, von Meistern perfektioniert.
Schon am frühen Morgen herrschte im Haus reges Treiben. Eine Hochzeit ist aufregend: das Kleid, das Make-up, die letzten Vorbereitungen. Dann die „Auslösung“ der Braut – ein lustiges Schauspiel, das zu keiner Hochzeit in dieser Gegend fehlt. Eine Tradition, die jeder einhält, ein Theater voller Lachen und Scherze. Lina lachte und wehrte sich gegen die spaßigen Aufgaben des Bräutigams, während ihre Freundinnen sie mit kräftigen Rufen anfeuerten.
Nach der Auslösung folgte die standesamtliche Trauung in einem schlichten, aber mit Blumen geschmückten Rathaus. Dann machte sich die fröhliche Gesellschaft auf den Weg durch die Stadt und später hinaus an den Fluss, wo die goldenen Herbstblätter der Buchen leuchteten. Doch zuvor bestand Lina darauf, noch einmal nach Hause zu fahren. Sie wollte unbedingt ihrer Oma Anna Müller im vollen Hochzeitsglanz zeigen. Anna war schon zweiundneunzig Jahre alt und natürlich nicht mit ins Restaurant gekommen – das Alter machte sich bemerkbar.
Anna litt unter Schmerzen in den Beinen. Als junges Mädchen hatte sie sie sich im Krieg in einer Fabrikarbeit erkältet. Die Zeiten waren hart, und die Kindheit blieb oft auf der Strecke. Doch ihr Herz war jung geblieben, und ihre Liebe zur Enkelin kannte keine Grenzen. Sie liebte Lina so, wie nur Großmütter es können: bedingungslos, mit ganzem Herzen.
Wenn Lina sie besuchte, konnte Anna kaum den Blick von ihr wenden. Sie bewunderte sie, als sähe sie ein Wunder. Die Eltern wagten es nicht einmal, in Annas Gegenwart die Stimme gegen die Enkelin zu erheben. Sobald sie anfingen zu schimpfen, unterbrach sie sie scharf: „Seid still! Man muss sie lieben!“ Und die Eltern verstummten verlegen. Anna war überzeugt, dass Lina beschützt werden musste – das Leben konnte schon hart genug sein, und Fremde würden selten so liebevoll sein wie die eigene Familie.
Und nun heiratete ihre geliebte Enkelin. Trotz ihrer Schmerzen wollte Anna sie im Hof empfangen. Sie zog ihr bestes Kleid an – dunkelkirschrot mit feinen Stickereien –, legte die alten Perlen an, die sie seit ihrer Jugend aufbewahrt hatte, und band ein passendes Tuch um. Mühsam humpelte sie zur Bank vor dem Haus, setzte sich und wartete, nervös wie in jungen Jahren vor dem ersten Date. Zwei Nachbarinnen gesellten sich zu ihr. Eine hatte sogar ihren eigenen Stuhl mitgebracht, um bequemer zu sitzen. Gemeinsam erinnerten sie sich an ihre eigenen Hochzeiten, ihre Träume und Verluste.
Dann endlich fuhren die mit Bändern geschmückten Autos vor. Aus dem ersten stiegen die Frischvermählten. Lina im weißen Kleid wirkte wie ein Schwan – sanft, strahlend, mit einem Gesicht, das Annas Herz sofort ergriff. Neben ihr stand der Bräutigam, Markus, hochgewachsen und stattlich wie eine junge Eiche, in einem schlichten Anzug. Hinter ihnen folgte eine fröhliche Schar von Freunden, lachend und scherzend.
Als Anna ihre Enkelin sah, kamen ihr die Tränen. Freudentränen, vermischt mit der Bitterkeit der vergangenen Jahre. Sie war zweiundneunzig – eigentlich Zeit zu gehen, und doch war sie noch hier, durfte ihre Lina sehen, ihren ganzen Stolz. Die Enkelin trat strahlend auf sie zu und flüsterte etwas ihren Freundinnen zu. Diese stellten sich im Halbkreis vor die drei alten Frauen – und begannen zu singen.
Ihre Stimmen, im Konservatorium geformt, flossen wie ein Fluss – kraftvoll und klar. Es war nicht nur Gesang, es war Kunst, Theater, etwas, das normale Menschen selten hörten. Sie sangen Lieder aus der Kriegszeit, genau die, die Annas Jugend begleitet hatten, als die Welt in Trümmern lag und die Herzen trotzdem von Liebe und Hoffnung sangen. Lina stand in der Mitte, im weißen Kleid, und ihre Stimme hob sich hervor wie ein heller Strahl.
Die Leute im Hof erstarrten. Vorbeigehende blieben stehen, verwundert über das Wunder in diesem ganz normalen, unscheinbaren Hinterhof. Wer waren diese Künstler, die so ergreifend sangen? Es war die Jugend, die für das Alter sang. Für ihre Kindheit, ihre Träume, für alles, was längst vorbei war und nie zurückkommen würde. Sie sangen vom Krieg, von Verlusten, von einer Liebe, die alles überdauert hatte.
Anna saß da, bemüht, sich zusammenzureißen. Sie wollte zeigen, wie stolz sie war, wollte stark wirken – doch die Tränen flossen einfach. Sie weinte, wischte sich die Augen mit dem Tuch ab, und weinte wieder. Doch in ihrem Herzen war es warm und licht. Denn die Jugend sang *ihre* Lieder – die Lieder aus der Zeit, als ihre Väter an die Front zogen und nicht alle zurückkehrten. Die Lieder, die ihre Herzen hielten, als die Welt in Flammen stand.
Das bedeutete, dass die Jugend ein Herz hatte. Eine Seele. Was wäre Jugend ohne sie? Und wenn die Jungen keine Blumen an Denkmälern niederlegten – kein Problem. Denkmäler waren kalt und stumm. Doch hier auf der Bank saßen drei lebendige Seelen, deren Schicksale in harten Zeiten geschmiedet worden waren. Sie hatten diesen Gesang verdient. Diese Liebe. Diesen Moment, in dem die Jugend sich vor ihnen verneigte und ihnen Respekt zollte.