Als man ihr am Bahnhofsschalter sagte, dass der letzte Zug bereits abgefahren sei, nickte Lara nur. Keine Überraschung, keine Wut – nur eine kühle Gelassenheit, als habe sie schon immer gewusst, dass es so kommen würde. In ihr hatte sich alles längst zu einem harten Knäuel zusammengezogen, bereit für jeden Schicksalsschlag. Sie geriet nicht in Panik, flehte den Schalterbeamten nicht an oder suchte nach einem Ausweg. Sie setzte sich einfach auf die kalte Bank, drückte die abgenutzte Tasche an ihre Brust, in der die Trümmer ihrer Vergangenheit lagen: ein paar Pullover, ein zerfleddertes Buch ohne Einband, ein Foto in einem gesprungenen Rahmen, auf dem das Lächeln fremd wirkte. Selbst der Geruch ihrer Sachen war fremd – durchtränkt von Feuchtigkeit und Vergänglichkeit. Der Bahnhof wurde still, es roch nach nassem Asphalt und billigem Kaffee, während eine ältere Dame laut in ihr Telefon sprach, als fürchte sie, ihre Stimme könne sich in der kalten Luft Münchens auflösen. Der Lärm unterstrich nur die Leere, in der Lara versank, und machte ihre Einsamkeit fast greifbar.
Sie blickte durch das vom Regen nasse Fenster. Die Dunkelheit hinter dem Glas verdichtete sich, und in den verschwommenen Tropfen spiegelte sich nicht nur eine Straße, sondern eine ganze Kette von Verlusten, als würde das Gedächtnis einen alten, verblichenen Film abspielen. Der Vater, der vor Jahren für Zigaretten verschwunden war, löste sich im fahlen Licht der Laternen auf. Die Mutter, gebeugt von Müdigkeit, warf ihr den Koffer mit ihren Sachen vor die Füße wie einen Schlusspunkt. Der Mann, der ihr mit abgewandtem Blick gestand, dass es mit Anna „ernst“ sei – was bedeutete, dass alles zwischen ihnen nur ein Schatten von Liebe gewesen war. Sie hatte längst begriffen: Das Ende ist nicht immer laut, mit Geschrei und zerbrochenem Geschirr. Oft kommt es im Flüstern. Oder in einer Stille wie jetzt, wo Laternen sich in Pfützen spiegelten und ihr Leben wie ein zerbrochener Spiegel schien, in dem jedes Splitterchen Schmerz barg.
Sie war zweiunddreißig. Das Alter, in dem man meint, zu wissen, was man will, aber noch zu viel Angst hat, es zuzugeben. Lara hatte nie gelernt, zu bitten oder zu bleiben. Bitten hieße Schwäche zeigen, bleiben hieße sich in fremde Hände geben. Sie war immer zuerst gegangen, die Zähne zusammengebissen, selbst wenn in ihr alles auseinanderbrach. Selbst zu gehen – das hieß, eine Wahl zu haben. Es gab die Illusion von Kontrolle, dünn wie ein Spinnennetz, aber rettend. Denn wenn du gehst, ist es deine Entscheidung, nicht das Urteil eines anderen. Auch wenn die Hände leer blieben und der Hals wie zugeschnürt war. Selbst Illusionen können ein Anker sein.
Ein junger Mann in einer dunklen Jacke ging vorbei, verlangsamte seinen Schritt, warf ihr einen Blick zu und blieb plötzlich stehen. Er zögerte, als wollte er weitergehen, doch etwas an ihrer zusammengesunkenen Gestalt hielt ihn zurück. Er trat näher, blieb aber auf Distanz wie jemand, der selbst einen Sturm in sich trug.
„Erwartet Sie jemand?“, fragte er. Seine Stimme verriet keine Neugier, nur eine vertraute Spur von Ratlosigkeit, als sähe er in ihr sein Spiegelbild.
Lara wollte abwehren, wie immer bei Fremden. Doch in seinen Augen lag kein Druck, nur Müdigkeit – dieselbe wie ihre, nur anders gelebt. Sie zuckte mit den Schultern, ohne aufzublicken:
„Niemand. Und Sie?“
Er grinste bitter und atmete aus, als würde er etwas Schweres von den Schultern werfen:
„Auch niemand. Mit Zügen haben wir heute wohl was gemeinsam – sie fahren ab, ohne zu fragen.“
Schweigend saßen sie nebeneinander auf der kalten Bank. Die Stille zwischen ihnen trennte nicht, sondern verband – mit einem dünnen, fast unsichtbaren Faden. Dann stand er auf, holte zwei Becher Tee am Automaten und kam zurück. Das Getränk war heiß, bitter, brannte in der Kehle – wie ihr Leben. Doch plötzlich lächelte Lara, leicht, als erlaubte sie sich diese Kostbarkeit zum ersten Mal seit Jahren. Er stellte sich vor – Felix. Sie nannte ihren Namen. Sie fragten einander nicht, wohin sie fuhren. Begegnungen, bei denen nicht das Ziel zählt, sondern die Gewissheit, nicht allein zu sein, brauchen solche Fragen nicht. Manchmal genügt es, dass jemand für einen Moment denselben Atemrhythmus hat.
Die Nacht verbrachten sie in der Wartehalle zwischen trüben Lampen, zitternden Schatten und dem Geruch von abgestandenem Kaffee. Felix legte ihr vorsichtig seine Jacke um die Schultern, als fürchte er, die zerbrechliche Stille zu stören. Sie schlief ein, vertrauensvoll den Kopf an seine Schulter gelehnt, und murmelte im Schlaf – einen Namen, eine Erinnerung. Am Morgen, als das graue Licht die Nacht zu tilgen begann, wurde der erste Zug nach Westen ausgerufen. Felix stand auf, kaufte schweigend zwei Tickets. Sie fragte nicht – wohin. Sie folgte ihm einfach, als wüsste sie: Jetzt gab es nicht nur einen Weg, sondern auch jemanden, ihn zu teilen. Denn manchmal ist der letzte Zug nicht der, der ohne dich abfährt. Sondern der, der wartet. Und wenn man Glück hat, wartet er genau auf dich.
Am Ende ist es nicht der Bahnhof, der entscheidet, ob du ankommst – sondern der Mut, den ersten Schritt zu einem fremden Gleis zu wagen.