Auf dem verlassenen Bahnsteig, wo schon lange keine Züge mehr hielten, saß ein Mann mit einem abgenutzten Koffer. Er hieß Heinrich Müller, und selbst er wusste nicht, was ihn hierhergeführt hatte. In seinen Händen drehte er einen alten Hut, und in seinem Gesicht lag ein Schatten von Ergebung, als hätte er sich einem undeutlichen Ruf gefügt, der in seiner Brust summte wie das ferne Rattern der Schienen.
Die Bänke, von der Zeit gezeichnet, erinnerten an alte Hände, durchfurcht von Jahren. Die rostige Uhr über dem Bahnsteig stand auf 16:47, als hätte die Zeit beschlossen, stehenzubleiben, diesen Augenblick in der Luft einzufrieren. Die Wände, bedeckt mit abblätternder Farbe und verblassten Graffitis, flüsterten mit dem Wind, und Fetzen alter Plakate flatterten wie vergessene Briefe. Die Bahnstation in den Ausläufern des Harzes schien nicht nur von den Menschen, sondern vom Schicksal selbst verlassen. Und doch hing im warmen Juli-Luft der Geruch von heißem Metall, staubigen Postern und etwas schmerzhaft Vertrautem – vielleicht der Jugend, die hier zurückgelassen wurde wie eine vergessene Fahrkarte.
Heinrich nahm den Hut ab, strich sich mit der Hand über das dünner werdende Haar und spürte das Grau unter seinen Fingern. Er blickte in die Ferne. Die Schienen zogen sich wie Narben auf der Haut der Erde bis zum Horizont, verschwammen im flirrenden Abendlicht. Sie waren über die Jahre nicht verschwunden, nur rostig geworden, doch sie lockten noch immer dorthin, wo es keine Wege mehr gab. Er wartete nicht auf einen Zug. Erwartete niemanden. Er war gekommen, weil er sich einst geschworen hatte: *Wenn die Fragen versiegen, kehre ich zurück.* Nun gab es wirklich keine mehr – nur eine stille, bittere Sehnsucht, wie das Echo eines fernen Pfiffs.
Einst hatte er hier auf diesem Bahnhof Greta getroffen. Sie war im Sommer zu ihrer Tante ins Nachbardorf gekommen, und ihre Bekanntschaft begann mit einem lächerlichen Streit um die letzte Flasche Limonade am Kiosk. Ihr Lachen, hell wie ein Glöckchen, und die Sommersprossen auf ihrem Gesicht hatten seine Welt umgekrempelt wie ein Windstoß durch ein offenes Fenster. Sie hatten auf dieser Bank gesessen, Pläne geschmiedet: ein Häuschen am Fluss, Reisen mit alten Zügen, ein Leben, das sich formen ließ wie Ton. Doch Greta war fortgegangen – erst in die Stadt, dann ins Ausland. Die Briefe wurden seltener, die Anrufe kälter, bis sie in Stille versanken, wie ihre Träume, verblasst wie die Plakate an den Wänden. Heinrich war geblieben – allein, wie der letzte Fahrgast auf einem Bahnsteig, dessen Fahrplan längst der Wind davongetragen hatte.
Er hatte in der örtlichen Fabrik gearbeitet, in Hallen, die nach Öl und Metall rochen, wo die Luft so schwer war, dass sie die Wände zu stützen schien. Die Fabrik war still geschlossen worden, einfach das Schild abgenommen, die Tore verrostet. Heinrich nahm jede Arbeit an – Kisten schleppen auf dem Markt, Nachtwache im Kindergarten, Möbel reparieren in der Werkstatt eines Bekannten. Das Dorf verfiel wie ein alter Garten, in dem niemand mehr die dürren Äste abschnitt. Bekannte zogen fort, hinterließen nur vergilbte Fotos in Alben. Und er wartete. Worauf, wusste er nicht, wie ein Reisender an einer Haltestelle ohne Züge.
Plötzlich begann es zu regnen. Warme, schwere Tropfen prasselten auf den Bahnsteig, den Koffer, die alte Fahrkarte in seiner Jackentasche. Heinrich rührte sich nicht. Der Regen war wie die Stimme der Vergangenheit: Alles fließt, alles ändert sich, nur du stehst da, klammerst dich an Erinnerungen wie an ein zerrissenes Seil über dem Abgrund.
Dann tauchte eine Gestalt aus dem Schatten auf. Eine Frau in einem dunklen Mantel, ohne Schirm, ging langsam, als zweifle sie an ihrem Weg.
*„Entschuldigen Sie“*, sagte sie und blieb zwei Schritte entfernt stehen, *„fährt hier noch ein Zug?“*
Heinrich lächelte bitter, doch in seinem Lächeln lag auch eine merkwürdige Zärtlichkeit.
*„Hier gibt es keine Züge mehr“*, antwortete er. *„Der Bahnhof ist tot. Niemand wartet hier.“*
Sie sah ihn lange an, in ihrem Blick lag Erschöpfung und noch etwas – etwas Vertrautes, wie ein Spiegelbild in einer Pfütze.
*„Und Sie?“*
*„Ich?“* Er zögerte. *„Ich erinnere mich nur.“*
Sie schwiegen. Der Regen trommelte auf das Dach, den Koffer, ihre gemeinsame Befangenheit.
*„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“*, fragte sie leise.
Er nickte. Die Frau ließ sich neben ihn fallen, und ihre Gegenwart wärmte die kalte Luft. Sie sprachen nicht, fragten nicht nach Namen, versuchten nicht, die Stille mit Worten zu füllen.
Irgendwann spürte Heinrich, wie sich in seiner Brust eine Wärme regte – als löste jemand behutsam die Knoten, die er über Jahre hinweg gezogen hatte. Vielleicht hatte er umsonst auf Greta gewartet. Vielleicht war es egal, wohin der Zug führte, wenn man nicht den Mut fand, an einem neuen Bahnhof auszusteigen.
Als der Regen aufhörte, stand die Frau auf.
*„Ich muss gehen“*, sagte sie.
*„Wohin?“*
Sie lächelte – zum ersten Mal, leicht, als hätte sie etwas Schweres losgelassen.
*„Dahin, wo man auf mich wartet.“*
Und nach einem kurzen Zögern fügte sie hinzu:
*„Manchmal sind wir selbst unsere wichtigsten Fahrgäste.“*
Sie ging die Schienen entlang, ihre Silhouette verschmolz mit dem Abendlicht.
Heinrich blieb auf der Bank zurück, spürte, wie sich die Stille veränderte – nicht mehr bedrückend, sondern leicht, als atmeten die Wände des Bahnhofs zum ersten Mal frei. Seine Schultern, die immer eine unsichtbare Last getragen hatten, streckten sich wie Flügel, an die er längst vergessen hatte.
Er nahm den Koffer, der plötzlich leichter schien, als hätten die alten Erwartungen mit dem Regen davongespült. Der Bahnhof ließ ihn ziehen, ohne sich an Schatten der Vergangenheit zu klammern. Mit jedem Schritt spürte er die feuchten Bohlen unter seinen Füßen und wusste: Irgendwo vor ihm lag ein Bahnhof – nicht zum Warten, nicht zum Erinnern, sondern zum Leben, voll und ganz, wo jeder Schritt von alten Fesseln befreite.