Auf einem verlassenen Bahnsteig, wo längst keine Züge mehr hielten, saß ein Mann mit einem abgewetzten Koffer. Er hieß Ludwig Weber und wusste selbst nicht, was ihn hierhergeführt hatte. In den Händen drehte er einen alten Hut, sein Gesicht zeigte einen resignierten Ausdruck, als hätte er sich einem dumpfen Ruf gefügt, der in seiner Brust summte wie das ferne Dröhnen der Schienen.
Die Bänke, von der Zeit zerfurcht, erinnerten an runzlige Greisenhände. Die rostige Uhr über dem Bahnsteig stand auf 16:47, als hätte die Zeit beschlossen, hier zu verharren und diesen Moment in der Luft einzufrieren. Die Wände, bedeckt mit abblätternder Farbe und verblassten Graffiti, flüsterten mit dem Wind, während alte Plakate wie vergessene Briefe im Luftzug flatterten. Die Bahnstation in den Ausläufern des Harzes schien nicht nur von den Menschen verlassen, sondern auch vom Schicksal selbst. Dennoch hing im warmen Juliabend der Geruch von erhitztem Metall, staubigen Anschlägen und etwas unendlich Vertrautem – der Jugend vielleicht, die hier zurückgelassen worden war wie eine vergessene Fahrkarte.
Ludwig nahm den Hut ab, strich sich über das dünner werdende Haar, spürte das Grau unter seinen Fingerspitzen, und blickte in die Ferne. Die Schienen, wie Narben auf der Haut der Erde, zogen sich zum Horizont und verloren sich im flirrenden Abendlicht. Sie waren nicht verschwunden, nur verrostet, aber sie lockten noch immer dorthin, wo es keine Wege mehr gab. Er wartete nicht auf einen Zug. Erwartete niemanden. Er war gekommen, weil er sich einst geschworen hatte: *„Wenn die Fragen verstummen, kehre ich zurück.“* Nun gab es wirklich keine mehr – nur eine stille, bittere Wehmut, wie das Echo eines fernen Pfiffs.
Einmal hatte er hier auf diesem Bahnhof Anna getroffen. Sie war für den Sommer zu ihrer Tante in das Nachbardorf gekommen, und ihre Bekanntschaft begann mit einem lächerlichen Streit um die letzte Flasche Limonade am Kiosk. Ihr Lachen, hell wie ein Glöckchen, und die Sommersprossen auf ihrem Gesicht hatten seine Welt auf den Kopf gestellt, wie ein Windstoß durch ein offenes Fenster. Sie hatten auf dieser Bank gesessen und Pläne geschmiedet: ein Haus am Fluss, Reisen mit alten Zügen, ein Leben, das sich formen ließ wie Ton. Doch Anna war fortgezogen – erst in die Stadt, dann ins Ausland. Die Briefe wurden seltener, die Anrufe kühler, bis alles in Stille versank, wie ihre Träume, die verblassten wie die Plakate an den Wänden. Ludwig blieb – allein, wie der letzte Fahrgast auf einem Bahnsteig, dessen Fahrplan längst verweht war.
Er hatte in der örtlichen Fabrik gearbeitet, in Hallen, die nach Öl und Stahl rochen, wo die Luft so dick war, dass sie die Wände zu tragen schien. Die Fabrik wurde stillgeschlossen, einfach das Schild abgenommen, und die Tore rosteten vor sich hin. Ludwig nahm jeden Job an – er lud Kisten auf dem Markt ab, bewachte den Kindergarten, reparierte Möbel in der Werkstatt eines Bekannten. Das Dorf verfiel wie ein alter Garten, in dem niemand mehr die dürren Äste schnitt. Bekannte zogen fort und hinterließen nur vergilbte Fotos in Alben. Und er wartete. Worauf, wusste er nicht, wie ein Wanderer an einer Haltestelle ohne Züge.
Plötzlich setzte Regen ein. Warme, schwere Tropfen prasselten auf den Bahnsteig, den Koffer, die alte Fahrkarte in seiner Jackentasche. Ludwig rührte sich nicht. Der Regen war wie eine Stimme der Vergangenheit: Alles fließt, alles ändert sich, doch du bleibst stehen, klammerst dich an Erinnerungen wie an ein zerfetztes Seil über dem Abgrund.
Dann tauchte eine Gestalt hinter der Ecke des Bahnhofs auf. Eine Frau in einem dunklen Mantel, ohne Schirm, ging langsam, als wäre sie sich ihres Weges nicht sicher.
„Entschuldigen Sie“, sagte sie und blieb stehen, „fährt hier noch ein Zug?“
Ludwig lächelte bitter, doch in seinem Lächeln lag auch eine seltsame Zärtlichkeit.
„Hier fahren keine Züge mehr. Der Bahnhof ist tot. Niemand wartet hier.“
Sie sah ihn lange an, in ihren Augen las er Müdigkeit und etwas anderes – etwas Vertrautes, wie ein Spiegelbild in einer Pfütze.
„Und Sie?“
„Ich?“ Er zögerte. „Ich erinnere mich nur.“
Schweigen. Der Regen trommelte auf das Dach, den Koffer, auf ihre gemeinsame Befangenheit.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ fragte sie leise.
Er nickte. Die Frau setzte sich neben ihn, und ihre Gegenwart wärmte die kalte Luft. Sie schwiegen, fragten nicht nach Namen, versuchten nicht, die Stille mit Worten zu füllen.
Irgendwann spürte Ludwig, wie durch die Schwere in seiner Brust etwas Warmes brach – als würde jemand vorsichtig die Knoten lösen, die er jahrelang in sich festgezogen hatte. Vielleicht hatte er vergebens auf Anna gewartet. Vielleicht war es egal, wer mit dem Zug kam, wenn man selbst nicht den Mut hatte, eine neue Plattform zu betreten.
Als der Regen nachließ, stand die Frau auf.
„Ich muss gehen“, sagte sie.
„Wohin?“
Sie lächelte – zum ersten Mal, leicht, als hätte sie etwas Schweres losgelassen.
„Dorthin, wo man auf mich wartet.“
Und dann, nach einem kurzen Zögern:
„Manchmal sind wir selbst unsere wichtigsten Passagiere.“
Sie ging die Gleise entlang, ihre Silhouette verschmolz mit dem Abendlicht.
Ludwig blieb auf der Bank sitzen, spürte, wie die Stille sich veränderte – nicht mehr bedrückend, sondern leicht, als würden die Wände des Bahnhofs zum ersten Mal frei atmen. Seine Schultern, immer von unsichtbarer Last gebeugt, streckten sich wie Flügel, an die er längst nicht mehr geglaubt hatte.
Er nahm den Koffer, der plötzlich leichter wirkte, als hätten die alten Erwartungen ihn mit dem Regen verlassen. Der Bahnhof ließ ihn gehen, ohne sich mit Schatten der Vergangenheit an ihn zu klammern. Als er fortging, spürte er die feuchten Dielen unter seinen Füßen und wusste: Irgendwo vor ihm lag ein Bahnhof – nicht zum Warten, nicht zum Erinnern, sondern zum Leben, voll und echt, wo jeder Schritt von alten Fesseln befreite.