Der, der blieb
Auf dem Friedhof roch es nach feuchtem Gras und aufgetauter Erde. Der Frühling kam hier immer zu spät, als würde sich der Tod an seine Rechte klammern und nicht weichen wollen. Die Bäume standen kahl, mit vereinzelten Knospen, und wirkten erstarrt wie die Menschen nach einer Beerdigung, die ziellos umherirrten.
Erik stand am Grab seines Großvaters, einen welken Kranz mit verblasstem Band in der Hand, darauf die Worte: *In ewiger Erinnerung*. Er fühlte nichts – keine Trauer, keine Erleichterung. Innen war alles wie ein zugefrorener See: oben glatt und kalt, doch tief unten brodelte das Schmelzwasser. Er erinnerte sich, wie er als Kind vor dem Gürtel des Großvaters im alten Schuppen zwischen rostigen Eimern flüchtete, während seine Mutter von der Türschwelle rief: *„Erik, reiz ihn nicht!“* Damals mischten sich Angst und Groll, aber am stärksten war das Gefühl, ungehört zu bleiben.
Das Dorf verfiel. Von den einst zehn Häusern hielten nur noch wenige stand. Die Dächer klafften mit Löchern wie greise Münder, Zäune lehnten schief, als wären sie hastig errichtet. Kinderlachen war längst verstummt, der Duft von frischem Brot verschwunden. Die Jugend war weg – einige in die Stadt, andere ins Ausland, ohne einen Blick zurück. Die Alten gingen einer nach dem anderen, als folgten sie einem unsichtbaren Plan. Die Zurückgebliebenen irrten mit leeren Blicken umher, wie Wachen, die auf eine Ablösung warteten, die nie kommen würde.
Erik war vor zwanzig Jahren gegangen – erst zur Fachschule, dann zur Bundeswehr, später zum Arbeiten ins Ruhrgebiet. Nun war er zurück. Der Großvater war plötzlich gestorben, die Nachbarin hatte angerufen: *„Komm, er ist schon kalt.“*
Er dachte: Beerdigung, Haus verkaufen – Ende. Er war bereit für die feuchten Wände, den Modergeruch, das alte Foto des Großvaters mit strengem Blick. Für alles – nur nicht… für Nachbarin Marlene.
Sie erkannte er kaum wieder. Das Mädchen mit den Zöpfen, das einst hinter ihm durch Pfützen gelaufen war, stand nun am Brunnen mit einem Eimer – stark, ruhig, erwachsen. Die Haare zu einem festen Zopf gebunden, die Hände von der Arbeit grob, doch die Augen lebendig, mit demselben Funkeln, nur jetzt tiefer, wie ein See. Sie sah ihn direkt an, ohne viele Worte, aber so, als durchschaute sie ihn – und nahm ihn an, als wäre er nie weggewesen.
*„Lange hier?“*, fragte sie, ohne Lächeln, aber mit einer Wärme, als kenne sie die Antwort schon.
*„Beerdigung, Haus verkaufen…“* Er zuckte mit den Schultern, wich ihrem Blick aus. *„Und du? Alle sind doch weg.“*
*„Ich bin geblieben“*, antwortete sie und stellte den Eimer um. Nach einer Pause fügte sie hinzu: *„Irgendwer musste es ja tun.“*
Er fand keine Worte. Ihre Stimme, fest und gelassen, schien ihn schon längst zu denen gezählt zu haben, die gegangen waren. Das traf ihn wie ein Splitter.
Abends fuhr er nicht in die Kreisstadt. Er blieb. Vernagelte das kaputte Fenster, wischte die Böden, schüttelte die staubigen Vorhänge aus. Holte Wasser vom Brunnen. Schlief auf dem knarrenden Sofa, lauschte dem Heulen des Waldes und den Rufen der Eulen.
Nach einer Woche wollte er das Haus nicht mehr verkaufen. Erik hackte Holz, reparierte das Dach, richtete den Zaun auf. Morgens sang die Säge, abends roch es nach Rauch und heißem Tee. Er aß auf der Veranda, beobachtete, wie die Abendsonne durch die Fichten brach. Marlene brachte Kuchen, manchmal kam sie einfach – um zu sitzen. Die Gespräche waren kurz, doch die Stille mit ihr war leicht, vertraut. Sie wischte Staub von den Regalen, schenkte Tee ein, als wäre es das Selbstverständlichste.
*„Weißt du, Erik“*, sagte sie einmal, aus dem Fenster starrend. *„Hier ist alles einfach. Wer geht, dem gehört hier kein Platz mehr.“*
Die Worte klangen nicht wie Vorwurf, sondern wie eine Tatsache – kalt wie der Morgentau. Sie trafen ihn. Als hätte sie ihn längst zu denen gezählt, die „nicht hier“ wählten.
Er blieb. Der Frühling ging, der Sommer kam, dann der Herbst. Er gewöhnte sich ans Aufstehen ohne Wecker, wusste, wo die Streichhölzer lagen, wenn der Strom ausfiel. Reparierte die alte Sauna. Legte sich Hühner zu. Schichtete das Brennholz, ordentlich gestapelt, bloß um der Ordnung willen. Fand ein Album mit Fotos seiner Mutter – und weinte zum ersten Mal seit Jahren. Leise, als wäre etwas in ihm gebrochen. Oder vielleicht geheilt.
Als ein Käufer kam, lehnte Erik ab. Er erklärte nichts, sagte nur: *„Nicht zu verkaufen.“* Der Mann mit den müden Augen zuckte mit den Schultern, stieg ins Auto und fuhr davon, hinterließ nur eine Staubwolke und Benzingeruch.
*„Und jetzt?“*, fragte Marlene, als er zurückkam. *„Bleibst du?“*
Er nickte. Keine großen Worte, kein Pathos – nur *„Ja“*. Ihr Gesicht blieb ruhig, doch ihre Augen wurden warm wie die Sonne, die durch den Morgennebel bricht. Sie sah ihn etwas länger an, als sähe sie ihn zum ersten Mal.
*„Na gut“*, sagte sie. *„Irgendwer musste ja bleiben.“*
Und fügte hinzu, mit einem leisen Lächeln, fast flüsternd:
*„Du – der, der blieb.“*