Als Thomas sechsundvierzig wurde, begriff er plötzlich, dass er genau der geworden war, vor dem er sich mit zwanzig am meisten gefürchtet hatte. Der Typ, den er verachtet hatte, wenn er im trüben Spiegel der U-Bahn sein hoffnungsvolles Gesicht nach erfolglosen Film-Castings betrachtete. Jetzt saß er in einem sterilen, weißgetünchten Büro im achtzehnten Stock eines Frankfurter Büroturms am Stadtrand. Draußen rasten Autos über die Stadtautobahn, als wollten sie vor etwas fliehen – vielleicht vor sich selbst. Der Glastisch, die metallenen Sessellehnen, der Kaffee aus dem Automaten mit dem Beigeschmack bitterer Fremdgespräche. Und an der Wand: ein sorgfältig gerahmtes MBA-Zertifikat. Früher sein Stolz. Jetzt sein Urteil?
Thomas starrte darauf, empfand nichts. Keine Freude, kein Bedauern. Nur Leere. In diesem bis auf den Millimeter durchgeplanten Leben gab es keinen einzigen Schritt mehr, der wirklich sein Eigen war. Alles schien an ihm vorbeizugehen. Die Ehefrau, mit der er nur noch über Logopädie-Termine der Tochter sprach. Das Haus, in dem jedes Möbelstück vom Designer ausgewählt worden war – nicht vom Herzen. Der Job, der gut bezahlte, aber kein Warum mehr kannte.
Dabei hatte er einst vom Film geträumt. Wirklich geträumt. Mit einer alten 8-mm-Kamera gefilmt, Drehbücher auf Kassenzettel gekritzelt, sich bis zur Heiserkeit über Bildkomposition gestritten und nachts im Studentenwohnheim-Keller geschnitten. Damals war jeder Tag elektrisierend. Damals lebte er.
Dann – der Brief. Echter Post. Grauer Umschlag ohne Absender. Eine Handschrift, scharf wie ein Messerschnitt ins Gedächtnis:
*„Erinnerst du dich an die Alte Brücke? Samstag. 19 Uhr. Ich bin da. – L.“*
Er wusste sofort, wer das war. Lena. Seine erste Liebe. Aber nicht bloß die erste. Sie war Orkan, Flug, Feuer. Diejenige, mit der er über die Dächer der Altbauten gestreift war, sich an Tee und Heizungsrohren in Filmstudios gewärmt hatte, die mit ihm von „echten Geschichten“ träumte. Lena war wie Frühling nach nuklearem Winter – grell, lebendig, unwirklich. Er hatte sie über zwanzig Jahre nicht gesehen. Seit sie ging. Er blieb. Blieb dort, wo man zahlt. Wo man schweigt. Wo niemand wartet.
Er kam. Er wusste, dass er kommen würde. Ins alte Café am U-Bahnhof, wo sie früher einen Cappuccino teilten, weil kein Geld für zwei da war. Lena saß am Fenster. Eine Tasse vor sich. Ein Schal. Kein Make-up. Dieselbe kerzengerade Haltung. Dieselben Augen – nur mit einer Müdigkeit darin, als hätte sie keine Jahre, sondern einen Krieg hinter sich. Doch ihre Stimme… genau dieselbe.
„Hallo“, sagte sie ruhig. „Ich wusste, du vergisst den Weg nicht.“
„Ich dachte schon. Aber meine Füße wussten es besser.“
Sie redeten. Lange. Ohne Vorwürfe, ohne Schutzpanzer. Als hätte die Zeit alles weggespült, bis nur das Wesentliche übrig blieb. Sie erzählte, wie sie in den Schwarzwald gezogen war, in einem Haus ohne Heizung lebte, Jugendlichen beibrachte, nicht Rollen, sondern Gefühle zu spielen. Einen Sohn bekam. Ihn verlor. Mit zwanzig starb er bei einem Autounfall. Und danach stieg Lena wieder in einen Zug – nicht um Glück zu finden, sondern um sich zu erinnern. An sich selbst.
„Weißt du“, sagte sie, zum Fenster gewandt, „du hast damals Bequemlichkeit gewählt. Ich verurteile das nicht. Aber ich konnte nicht warten. Ich musste leben. Nicht überleben.“
Thomas hörte zu. Und spürte, wie etwas in ihm zerbrach. Nicht schmerzhaft – befreiend. Als bröckelten Stein für Stein die Mauern ab, hinter denen er sich vor sich selbst versteckt hatte. Es war unheimlich. Aber zum ersten Mal seit Jahren fühlte er sich lebendig.
„Ich… ich habe all die Jahre nicht gelebt“, flüsterte er. „Ich habe Anweisungen kopiert. Aber du… du bist dahin gegangen, wo es wehtut. Doch ehrlich.“
Lena berührte seine Hand. Leicht. Aber als hätte sie eine Stärke in ihm gespürt, die er selbst vergessen hatte.
„Man kann umkehren. Immer. Selbst wenn der Weg zurück zugewachsen ist.“
Sie verabschiedeten sich nicht. Sie gingen einfach. Ohne Versprechen. Doch in ihm summte es jetzt – ein anderer Rhythmus. Als erwache in seiner Brust eine längst vergessene Melodie.
Eine Woche später kündigte er. Ohne Drama. Ohne Szene. Er stand einfach auf und ging. Ein Monat später – das Auto verkauft. Zwei Monate – ein Zimmer in einem Altbau in Kreuzberg. Knarzende Dielen, eine Katze, eine Bibliothek gegenüber. Und – ein Drehbuch. Das erste seit zwanzig Jahren.
Zwei Jahre später kam der Film heraus. Unaufgeregt. Ohne Stars. Aber lebendig. Alles war darin: verbrannte Brücken, Dachböden alter Häuser, die Augen eines Jungen, der glaubt, es geht auch anders. Bei einer Preview sah er eine Frau in Schwarz. Sie nickte nur. Aus der Distanz. Kam nicht näher. Das genügte.
Manchmal muss man alles riskieren, was man nicht wirklich ist, um wieder man selbst zu werden. Die Fassade ablegen. Die Angst zugeben. Dorthin zurückkehren, wo man echt war.
Und bleiben. Diesmal – ohne zu fliehen.