Und alles andere – später
Als Johanna von der Arbeit nach Hause kam, stand ein Koffer vor ihrer Tür. Einfach so – fremd, stumm, als gehöre er zu einem anderen Leben. Die Wohnung war ungewöhnlich still. Kein Essensduft, kein laufender Fernseher, keine Geräusche, die sonst den Alltag begleiteten. Alles war weg – nicht einmal die Tür hatte geknallt.
Der Koffer war geschlossen, der Griff ordentlich eingeklappt. Es wirkte nicht wie eine Flucht, sondern wie ein länger geplantes Verschwinden. Johanna trat zurück, als könnte sie die Zeit zurückdrehen, die Tür schließen – und alles wäre wie vorher. Sie rief ihn an. Schweigen. Sie schrieb. Keine Antwort. Am Kühlschrank klebte ein gelber Zettel, schief aufgeklebt: *„Tut mir leid. Ich schaffe es nicht. Hole meine Sachen später ab. Schlüssel lasse ich da.“* Keine Unterschrift. Keine Erklärung. Nur ein Punkt – fett, wie ein Urteil.
Johanna setzte sich auf den Hocker, so wie früher als Kind, wenn ihre Mutter sie in die Ecke stellte – ohne Worte, ohne Streit. Damals war ihre Familie hinter ihr, jetzt nur eine leere Wohnung und Leere in ihr. Sie weinte nicht. Sie saß einfach da, als wäre die Strafe grundlos gekommen. Die Arbeit, die ihr seit Jahren die Kraft raubte. Das Leben, das zum endlosen Kreislauf geworden war: Pendeln, Berichte, Schweigen. Der Mann, mit dem sie längst nur noch über Alltägliches sprach. Und sie selbst – die verlernt hatte, zu bitten, zu warten, zu erklären.
Eine Woche verging. Dann noch eine. Im Büro war alles wie immer: Berichte pünktlich, ein lässiges Lächeln, eine ruhige Stimme. Nur einmal warf eine Kollegin beiläufig ein: *„Du, schon wieder kein Mittagessen?“* und wechselte sofort zum Thema Wasserfilter. Johanna wusste nicht einmal mehr, ob sie überhaupt etwas gegessen hatte.
Am Freitag ging sie nach der Arbeit nicht nach Hause. Sie ging einfach. Irgendwohin. Der Frühlingsabend roch nach Asphalt und Schmelzwasser, die Luft war kühl, wie eine leise Erinnerung an etwas Vergessenes. In der Hand ein Pappbecher mit Kaffee, in den Ohren keine Musik, keine Stimmen. Nur das Rauschen der Straße, Schritte, vorbeifahrende Autos. Plötzlich hing da ein Plakat am alten Theater. *„Heute. 19:00.“* Verblasste Buchstaben, vom Wind eingerissen.
Sie kaufte eine Karte. Letzte Reihe. Das Stück war seltsam: wenige Worte, viel Stille. Die Figuren sprachen mit Gesten, Bewegungen, ihrem Atem. Doch dann blickte einer der Schauspieler direkt ins Publikum und sagte: *„Niemand zieht dich aus der Dunkelheit, bis du nicht selbst den Schritt machst.“* Und im Saal wurde es so still, dass selbst das Rascheln von Stoff laut klang. Johanna erstarrte. Etwas in ihr bewegte sich. Kein Zusammenbruch, keine Erleuchtung – nur eine winzige Verschiebung. Genug, um aufzuwachen.
Als sie hinausging, war sie anders. Nicht stark. Nicht siegreich. Einfach lebendig. Um einen Millimeter von dem Punkt entfernt, an dem sie zu lange verharrt hatte. Es war nicht der Anfang eines neuen Lebens. Es war der Anfang von Bewegung.
Am nächsten Morgen ging sie zum Friseur. Ließ die Spitzen schneiden und ein paar helle Strähnen ins Gesicht legen. Dann ins Schwimmbad, wo sie seit zehn Jahren nicht mehr gewesen war. Langsam, unsicher, aber sie stieg nicht aus, wie geplant. Sie blieb. Spürte, wie das Wasser sie bedingungslos trug. Später setzte sie sich in ein Café. Bestellte Frühstück. Versteckte nicht ihr Handy, hetzte nicht. Aß einfach. Atmete einfach.
Eine Woche später meldete sie sich für einen Fotokurs an. Kaufte eine gebrauchte Kamera. Lernte zu sehen – nicht nur Bilder, sondern Licht, Schatten, kleine Details. Ein Monat später fuhr sie in eine andere Stadt. Allein. Ohne Plan. Suchte sich einen Ort auf der Karte aus. Schlief in einem billigen Hostel. Trank Kaffee auf der Straße. Fotografierte Schaufenster, Passanten, Hunde. Saß am Fluss und weinte zum ersten Mal seit Langem – nicht vor Schmerz, sondern weil sie fühlte. Lebendig. Intensiv. Wirklich. Als hätte sie sich unter einer Staubschicht gefunden, die sich über Jahre angesammelt hatte.
Irgendwann schrieb ihr ihr Ex. Lange. Mit Entschuldigungen. Mit Erklärungen. Wollte sich treffen. Sagte, er habe einen Fehler gemacht, sei verwirrt gewesen, habe Angst gehabt.
Johanna las. Und antwortete: *„Danke. Aber ich gehe schon.“*
Wohin – sagte sie nicht. Denn sie wusste es selbst noch nicht. Aber sie wusste das Wichtigste: vorwärts. Nicht in eine neue Liebe. Nicht in die Karriere. Einfach in sich selbst.
Und alles andere… später.