Als Jonas die schwere Haustür aufstieß, empfing ihn der Geruch von feuchtem Putz und etwas kaum Greifbarem, Warmem – als hätte jemand gerade ein frisches Brötchen aus dem Ofen geholt. Seltsam. Dieses Haus hatte längst die Gerüche des Lebens vergessen. Alles hier war verblasst, erstorben, als hätte die Zeit selbst diese Mauern verlassen und nur ein kaltes Echo von Schritten hinterlassen.
Er war nach achtzehn Jahren zurückgekehrt. Die Stadt hatte sich verändert, war ihm fremd geworden, so wie er sich selbst fremd war. Sein Vater war im Herbst gestorben. Die Beerdigung war still verlaufen, fast unbemerkt, wie man jene begräbt, die das Leben bereits aus der Erinnerung der Nachbarn gestrichen hat. Die Nachbarin, Elfriede Becker, mit einem alten Kopftuch und einer abgewetzten Tasche, hatte ihm den Schlüssel gegeben:
„Der Sohn soll entscheiden, was nun kommt.“
Er zögerte. Monatelang. Es ging nicht um die Wohnung, sondern um etwas Größeres – um Erinnerungen, um Schmerz, um den Jungen, der einst durch diese Flure gelaufen war und geglaubt hatte, dass alles für immer so bleiben würde.
Nun stand er im dunklen Gang, in dem er sich als Kind vor seiner Schwester versteckt hatte, wenn sie Fangen spielten. Auf dem alten Beistelltisch lagen noch die Garnrollen seiner Mutter, ein Streichholzkästchen, ein vergilbter Kalender und eine Haarspange in Form eines Gänseblümchens. Alles an seinem Platz. Sogar das Gänseblümchen. Als wäre die Zeit stehen geblieben, während er selbst gealtert war – nicht mit kindlicher Freude, sondern mit der Schwere eines Erwachsenen, die wie nasser Schnee auf der Seele lastete.
Das Zimmer roch nach Vergangenheit. Der Duft hatte sich in die Tapeten, die Vorhänge, die alte Decke auf dem Sofa gebrannt, als würde alles hier verzweifelt an Erinnerungen festhalten. Die Luft war dick, fast greifbar, als bewahre sie den Atem vergangener Jahre. Er knipste das Licht an – die Lampe zischte widerwillig und erfüllte den Raum mit einem fahlen Schimmer. Alles wie damals, nur staubiger. Und die Stille – so tief, dass er seinen eigenen Herzschlag hörte, der ihn daran erinnerte, was ungesagt geblieben war.
Er ging in die Küche. An der Wand hingen Ausrisse aus alten Zeitschriften: Rezepte für Kuchen, Haushaltstipps, ein Gebet, das mit einer rostigen Reißzwecke befestigt war. Topflappen mit verblassten Mustern hingen am Haken, als warteten sie auf ihre Besitzerin. Auf der Fensterbank stand ein Aloe-Vera-Topf, der irgendwie überlebt hatte, mit ein paar zähen Blättern, die sich ans Leben klammerten, wie die Erinnerung an den Vater. Der Wasserkocher stand auf dem Herd, in ein altes Tuch gewickelt, genau wie damals, als der Vater zur Arbeit ging und die Mutter leise etwas vor sich hin summte. Jonas schenkte Wasser ein, setzte sich an den Tisch und starrte aus dem Fenster. Im Haus gegenüber rauchte jemand auf dem Balkon, das Glimmen der Zigarette blinkte wie ein Signal aus der Vergangenheit. Die Welt schien den Atem anzuhalten, und nur dieser Raum, durchtränkt von Erinnerung, blieb unverändert – eine Insel im Meer der Vergessenheit.
Er fand eine Kiste mit Fotos. Da war er – der Junge im blauen Mantel. Da der Vater – mit müdem Lächeln, schwieligen Händen, die nach Mehl und Tabak rochen. Da die Mutter. Jonas betrachtete das Bild lange: ihre Augen, leicht zusammengekniffen, warm und doch streng. Der Vater war gegangen, als Jonas neun war. „Zum Arbeiten“, hatte die Mutter gesagt. Und nie zurückgekehrt.
Er klappte die Kiste zu. Zu schmerzhaft. Zu plötzlich.
Am nächsten Morgen traf er im Hof einen alten Mann. Gebückt, mit einer abgetragenen Mütze und grauen Augenbrauen. Etwas Vertrautes lag in seinem Gesicht.
„Bist du Michaels Sohn?“, fragte er und blinzelte.
„Ja. Jonas.“
„Dachte schon, du kommst nicht wieder. Dein Vater hat nicht weit gewohnt. Hinterm Fluss. War Bäcker. Hat Brot gebacken – so gutes, dass die Leute extra von weit her kamen. Dann ist er kaputt gegangen. In den Neunzigern, heißt es, ist er vom Gerüst gefallen. Hat sich den Kopf gestoßen. Das Gedächtnis verloren. Hat mit einer Frau gelebt, die sich um ihn gekümmert hat wie um ein Kind.“
Jonas erstarrte.
„Wo ist er jetzt?“
„Weg. Letzten Winter. Allein. Sie hat gesagt, er hat manchmal an einen Jungen gedacht. ,Jonas‘ hat er gerufen. Im Traum. Das warst du?“
Der Tag war wie im Nebel. Jonas ging das Ufer entlang, der Wind peitschte ihm ins Gesicht, und in seinem Kopf hämmerte es: „Warum?“. Warum war der Vater nicht zurückgekommen? Warum hatte er nicht gesucht? Warum hatte er ihn mit dieser Leere zurückgelassen?
Am Abend betrat er eine kleine Bäckerei in der Nähe. Der Duft von frischem Teig und Hefe lag in der Luft. Die Verkäuferin, eine ältere Frau mit freundlichen Augen, erkannte ihn:
„Du bist Michaels Sohn? Er kam oft hierher. Hat immer nur ein Brötchen gekauft. Immer eines. Legte es auf die Fensterbank eures Hauses. Sagte: ,Damit der Junge weiß, wie Brot riecht.‘“
Jonas trat auf die Straße hinaus und weinte. Lautlos, wie Erwachsene weinen, wenn die Vergangenheit sie plötzlich einholt – wie der Duft von Brot aus der Kindheit. Die Tränen liefen über seine Wangen, und in ihnen spiegelten sich Fragmente von Erinnerungen: Sommerabende, das Lachen des Vaters, die warmen Hände der Mutter, der Geruch von frischem Gebäck aus der Küche.
Am dritten Tag räumte er die Wohnung auf. Er ließ alles, was die Wärme des Hauses bewahrte: die alte, rissige Tasse, das bestickte Kissen, das Tuch über der Stuhllehne. Jeder Gegenstand schien sich gegen das Vergessen zu stemmen. Er schloss die Tür nicht sofort – blieb stehen, die Stirn gegen den Rahmen gepresst, und verabschiedete sich nicht vom Haus, sondern von jenem Teil in ihm, in dem die Kindheit noch lebte.
Doch jedes Jahr im November würde er zurückkehren. Das wusste er genau. Er würde in diese stille Wohnung kommen. Brot backen – einfach, wie es sein Vater getan hatte. Ein Brötchen auf die Fensterbank legen. Und gehen, ohne sich umzusehen.
Damit jemand, irgendwann, nicht die Einsamkeit, sondern die Wärme erinnerte. Damit dieser Duft – vertraut, lebendig – eine Brücke würde zwischen den Toten und den Lebenden, zwischen Herz und Erinnerung.