Der Tag, an die Stille zerbrach
Lina merkte zum ersten Mal, wie lange sie nicht mehr gelacht hatte, als ihr die Tasse aus der Hand glitt. Sie zerbrach nicht – sie rollte nur unter den Küchentisch und hinterließ ein dumpfes Geräusch, wie ein Lichtschalter in einem leeren Raum. Eine Kleinigkeit, aber dieser Klang schlug in ihr ein wie ein Echo ihrer eigenen Leere. Kein Schmerz, keine Angst – nur diese Stille. Sie stand auf dem kalten Boden, in einem alten Schlafanzug, mit ungewaschenen Haaren, in denen sich die gleichen Gedanken drehten. Und sie versuchte sich zu erinnern, wann sie sich das letzte Mal wirklich lebendig gefühlt hatte – nicht mechanisch, sondern mit Haut und Haar. Es gelang ihr nicht.
Draußen herrschte ein trüber Märzmorgen – nasskalt, grau, windzerzaust. Letzte Schneereste duckten sich an den Rändern der Gehwege wie verblasste Erinnerungen. Auf dem Balkon zerrte der Wind an den Bettlaken, die sie tags zuvor aufgehängt hatte, und sie flatterten wie lebendig, als wollten sie sich losreißen. In der Wohnung roch nach Staub, säuerlichen Äpfeln und verbrauchter Melancholie. Das Lampenlicht wirkte matt, als hätte auch es die Hoffnung auf Veränderung verloren. Alles war wie angehalten, wie ein Film auf Pause gestellt.
Lina lebte allein. Nachdem David gegangen war, hatte sich äußerlich nichts verändert – innen jedoch war alles eingestürzt. Es gab keine Szene, keinen lauten Abschied. Er hatte einfach seine Sachen gepackt, sie kurz umarmt und gesagt: *„Du schaffst das. Du bist stark.“* Dann war er verschwunden. Sie stand am Fenster und sah ihm nach. Keine Tränen, kein Wort. Als gehöre sie nicht zu dieser Szene, als wäre es ein fremdes Leben. Nur ihr Herz schlug anders – leise, aber zerrissen. Und dann verstummte auch das.
Die Arbeit blieb. Die Kollegen. Der morgendliche Kaffee, der Wecker, die Excel-Tabellen. Doch alles glitt an ihr vorbei, wie ein Schatten im Spiegel. Sie lebte aus Gewohnheit, als spiele eine andere Frau ihre Rolle – pflichtbewusst, gefasst, unauffällig. Die echte Lina blickte aus der Tiefe und schwieg. Ohne Kraft, ohne den Willen, etwas zu ändern.
Und dann – diese Tasse. Sie zerbrach nicht. Sie blieb stumm. Eine bittere Ironie: Nicht einmal ein einfaches Ding wollte laut enden. Alles schien sich gegen sie verschworen zu haben, in Schweigen und Ungewissheit.
Ein paar Tage später stieg Lina in eine Regionalbahn. Ohne Ziel. Einfach bis zur Endstation. Ihr Mantel fehlte ein Knopf, ihre Haare waren hastig hochgesteckt – doch das kümmerte sie nicht. Sie hatte eine Thermoskanne und ein Buch dabei, öffnete aber beides nicht. Sie starrte nur aus dem Fenster. Vorbeiziehende Felder, verfallene Häuser, verwaiste Haltestellen. Alles wirkte ausgeblichen. Plötzlich – ein grellgelbes Fähnchen im Wind, an einer verrosteten Bude. Ein winziger Trotz gegen die allgegenwärtige Tristesse. Lina vergaß es nicht. Konnte es nicht.
Am Ziel stieg sie aus. Langsam, als zweifle sie noch, ob sie wirklich hier sein wollte. Sie kaufte eine warme Kartoffelsemmel von einer Frau im Schottenkaro. *„Guten Appetit, Mädel“*, sagte diese – und das Wort *„Mädel“* traf sie unerwartet tief. Sie setzte sich auf eine Bank am leeren Bahnsteig, aß, schaute, lauschte. Und in diesem Wind, in dieser Einfachheit – da war plötzlich Frieden. Die Stille war nicht mehr bedrohlich, sondern warm. Wie der Augenblick vor dem nächsten Atemzug. Und in ihr – Hoffnung.
Diesen Abend beschloss sie: Einmal in der Woche eine Fahrt. Wohin auch immer. Ohne Plan. Einfach fahren, sein, sehen. Menschen, Kinder, Händchenhalten, Verabschiedungen. Um sich daran zu erinnern: Sie lebte. Wirklich. Und sie brauchte keine Zustimmung, keine Rückkehr, keine Vergangenheit. Nur das Weitergehen.
Im Frühling traf sie David im Supermarkt. Am Teeregal. Er hatte sich verändert – schlanker, ernster. Ein paar Worte übers Wetter, über den langzUnd als sie die Scherben der zerbrochenen Tasse aufhob, lächelte sie – nicht weil sie geheilt war, sondern weil sie verstanden hatte, dass auch ein Bruch ein Anfang sein kann.