Rausgeworfen: Ein Familien-Drama
Erwachsenwerden bedeutet, zu erkennen, dass die Familie manchmal das zerbrechlichste Glied im Leben sein kann. Dieser Gedanke quälte mich jeden Abend, wenn ich in mein winziges Apartment am Stadtrand von Leipzig zurückkehrte. Ich heiße Greta. Mit 23 hatte ich meinen Abschluss in Marketing in der Tasche. Während des Studiums hatte ich in der alten Wohnung meines Opas gelebt, die meine Mutter nach seinem Tod geerbt hatte. Ich musste nur die Nebenkosten bezahlen, was ich mit meinem Job als Kellnerin im Café „Eichenblatt“ drei Straßen weiter schaffte.
Studium und Arbeit unter einen Hut zu bringen, war anstrengend. Ich kam erschöpft nach Hause, um nachts noch Vorlesungen zu pauken oder Hausarbeiten zu schreiben. Aber ich packte es – so machen es verantwortungsvolle Erwachsene eben.
Das Festessen zu meinem Abschluss bei meinen Eltern begann wie im Märchen. Mama hatte sich Mühe gegeben: selbstgebackene Kuchen, Salate, alles da. Meine kleine Schwester Lina, 16 und immer am Lachen, scherzte, dass sie meine Nachhilfe in Mathe vermissen würde. Tante und Onkel waren gekommen, alle prosteten mir zu. Doch als die Gäste gegangen waren, änderte sich die Stimmung. Mama räusperte sich in diesem Ton, der immer Unheil bedeutete. Mein Magen zog sich zusammen.
„Greta, Schatz“, fing sie kühl an, „jetzt, wo du deinen Abschluss hast, müssen wir über die Wohnung sprechen.“
„Was ist damit?“, fragte ich, während mein Herz in die Knie sackte.
„Wenn du dort wohnen willst, musst du Miete zahlen.“
Ich erstarrte, als hätte mich eiskaltes Wasser getroffen. Papa schwieg, starrte auf seinen Teller, und Lina vertiefte sich in ihr Handy, doch ich sah, wie sie mich beobachtete.
„Miete? Unter welchen Bedingungen?“, brachte ich heraus.
„Unter dem Marktpreis, Familientarif“, lächelte Mama, doch ihre Augen blieben kalt. Die Summe war trotzdem zu hoch für meinen Nebenjob.
„Verstehe“, antwortete ich – was hätte ich sonst sagen sollen?
Sie hatten recht: Ich war keine Studentin mehr, sondern erwachsen. Zeit, auf eigenen Beinen zu stehen.
Das nächste Jahr war ein Wirbelwind aus Arbeit, Rechnungen und dem Versuch, mich an das neue Leben zu gewöhnen. Ich fing als Junior-Managerin in einer Werbeagentur an. Das Gehalt war bescheiden, aber es reichte für die Miete an meine Eltern, die Nebenkosten und ein bisschen Leben. Jeden Monat überwies ich das Geld, manchmal gab ich etwas extra für Strom dazu. Ich wollte zeigen, dass ich verantwortungsbewusst war, dass ich es schaffte.
Lina kam selten vorbei, meistens wegen Hilfe bei Aufsätzen oder um in meinem Kleiderschrank zu stöbern. Ihre Besuche wurden immer berechnender. Sie war das Nesthäkchen, verwöhnt von den Eltern. Sie musste nicht jobben wie ich, Selbstständigkeit wurde ihr nicht beigebracht. Bald fing sie an, mit Moritz, einem älteren Typen aus der Autowerkstatt, auszugehen. Als sie ihn mitbrachte, wirkte er arrogant auf mich. Dann kam der Anruf, der mein Leben auf den Kopf stellte.
„Greta, komm sofort“, sagte Mama mit bebender Stimme.
Im Wohnzimmer herrschte erdrückende Stille. Mama und Papa saßen wie Statuen auf dem Sofa.
„Setz dich“, knurrte Papa. Er sah plötzlich alt aus.
„Lina ist schwanger“, platzte Mama ohne Vorwarnung heraus.
Ich erstarrte. Meine 17-jährige Schwester erwartete ein Kind von einem Typen aus der Werkstatt.
„Und noch etwas“, fügte Mama hinzu. „Lina und Moritz brauchen eine Wohnung. Sie ziehen in deine.“
Die Welt kippte. Ich krallte mich an die Armlehne, um nicht umzufallen.
„Ich soll also ausziehen?“, fragte ich mit zitternder Stimme.
„Ja“, antwortete Mama sachlich. „Sie brauchen Platz für die Familie. Das ist doch logisch, oder?“
Ich sah Lina an. Sie musterte ihre Nägel, als ginge sie das alles nichts an.
„Ich brauche Zeit, um was Neues zu finden“, presste ich heraus.
„Eine Woche reicht“, schnitt Mama mir das Wort ab. „Und, Greta: Du zahlst weiter die Miete.“
Ich lachte – bitter und scharf. Ich dachte, es sei ein Witz. Doch ihre Gesichter blieben ernst.
„Ihr wollt, dass ich ausziehe und für eine Wohnung zahle, in der ich nicht lebe?“, schrie ich fast.
„Das ist deine Pflicht als große Schwester“, sagte Papa streng. „Familie hält zusammen.“
„Pflicht?“, sprang ich auf, meine Hände zitterten vor Wut. „Sie sind erwachsen genug für ein Kind! Dann sollen sie auch selbst dafür sorgen!“
„Du bist egoistisch!“, kreischte Lina, Tränen in den Augen. „Dir ist mein Baby egal!“
„Egoistisch?“, fuhr ich Mama an. „Ich habe Miete bezahlt, seit dem ersten Semester geschuftet! Und jetzt soll ich für die beiden aufkommen? Keinen Cent gebe ich!“
Ich stürmte raus, während „undankbar“ und „egoistisch“ hinter mir hergeschrien wurden. Die Tür knallte zu, als wäre damit ein Schlussstrich gezogen.
In derselben Nacht packte ich meine Sachen. Tränen liefen, während ich mein Leben in Kartons verstaute. Glücklicherweise hatte ich Erspartes aus der Café-Zeit. Am nächsten Tag mietete ich eine Wohnung am anderen Ende der Stadt. Sie war schäbig: winzige Küche, abgewetzte Fliesen, langer Arbeitsweg. Aber sie war meins.
Ich nahm nur, was ich selbst bezahlt hatte: Bücher, Klamotten, Geschirr. Meine Kaffeemaschine, ein Geschenk an mich für meinen ersten Bonus, der Laptop, das Bett – alles, wofür ich gearbeitet hatte, kam mit.
Der Umzug dauerte zwei Tage. Danach fuhr ich zum Elternhaus und schob den Schlüssel unter die Tür. Kein Zettel – mir fehlten die Worte.
Eine Woche später rief Mama wütend an:
„Was hast du getan? Die Wohnung ist leer!“
„Ich habe nur mein Zeug genommen“, sagte ich ruhig. „Was ich selbst bezahlt habe. Lina und Moritz können ja mal probieren, das auch zu tun.“
Die Beschimpfungen wurden so heftig, dass ich auflegte.
Mein Leben änderte sich. Ich stürzte mich in die Arbeit. Meine Chefin, Frau Bauer, bemerkte meinen Einsatz und gab mir mehr Verantwortung. Bald leitete ich eigene Projekte, bekam eine Gehaltserhöhung. Ich sparte für eine Eigentumswohnung.
Durch Bekannte erfuhr ich von der Familie. Lina hatte einen Jungen bekommen. Sie und Moritz lebten in meiner alten Wohnung, während meine Eltern ihre Rechnungen zahlten. Dann kam ein Brief von Lina:
„Hey Schwesterherz! Hörte, du wurdest befördert – Glückwunsch! Komm vorbei, lern deinen Neffen kennen.“
Dabei eine Einkaufsliste für das Baby: Designerkinderwagen, teure Klamotten, Spielzeug. Ich antwortete:
„Arbeitest du?“
„Mama und Papa zahlen alles, geben uns Geld. Wir sind mit dem Baby beschäftigt“, schrieb sie. Und fügte hinzu: „Wir wollen noch mehr Kinder. Die Eltern sind so gutgläubig, die helfen da durch. Und ne große Hochzeit soll’s geben, die blechen.“
Ich las den Brief dreimal, angeekelt. Ich antwortete nicht, schickte ihn aber an Mama weiter – ohne Kommentar.
Ein Monat später rief Tante Helga:
„Greta, deine Eltern haben Lina rausgeworfen! Sie haben mitbekommen, wie sie über sie herzog und nur ihr Geld wollte. Sie sagen, sie geben keinen Cent mehr.“
Kurz darauf riefSchließlich fand ich Frieden in meinem eigenen Leben, während Lina und Moritz bei seinen Eltern lernten, was es heißt, Verantwortung zu tragen.