Silvesterzauber: Eine schicksalhafte Begegnung
Gertraud saß am festlich gedeckten Tisch in einer lärmenden Runde und fühlte sich doch einsam. Silvester im beschaulichen Städtchen Rothenburg wurde ausgelassen gefeiert: Die Freundinnen mit ihren Männern lachten, tranken Sekt und tanzten. Nur sie war mal wieder allein. Drei Stunden war die Party schon im Gange, und die Stimmung war bestens. Gertraud, vom Tanzen ganz aufgewärmt, beschloss, kurz an die frische Luft zu gehen. Die Wohnung lag auf der ersten Etage – sie warf ihren Mantel über und stand schon im Hinterhof. Sie blickte zum Himmel und blieb wie gebannt stehen: Die Sterne funkelten wie Silvesterlichter in der kalten Winternacht.
„Wie im Märchen“, flüsterte sie – und zuckte zusammen, als plötzlich eine männliche Stimme hinter ihr erklang.
Man sagt, Wunder gäbe es nicht. Aber sie passieren! Nur Leute wie Gertraud halten sie für Zufall und gehen einfach vorbei.
Silvester mochte Gertraud nicht. Der ganze Trubel, die Lichterkette, die Erwartung von Magie – für sie reine Zeitverschwendung.
„Ach, nur eine Nacht“, brummte sie. „Was ist schon so besonders am 31. Dezember? Blödsinn, den sich die Leute ausdenken, um sich zu freuen!“
„Du kapierst es einfach nicht, Gertraud“, seufzten ihre Freundinnen. „Das ist das Fest der Kindheit, der Familie, der Liebe – und der Wunder! Sie passieren, wenn man dran glaubt.“
„Und wenn nicht?“ – grinste sie spöttisch.
„Dann auch!“, riefen die Freundinnen im Chor.
„Na dann – soll doch mal ein Wunder mir passieren!“, forderte sie heraus.
„Wünsch dir was! Versuch’s doch!“, drängten sie.
„Gut“, gab sie nach. „Dann soll mein zukünftiger Mann mich in dieser Silvesternacht finden.“
Die Freundinnen tauschten Blicke. Eine warf ein:
„Wie soll er dich denn finden, wenn du wie immer zu Hause bleibst?“
„Für diesen Ausnahmefall breche ich mit meinen Gewohnheiten“, erklärte Gertraud. „Ich werde euch die Augen öffnen. Ihr lebt in einer Traumwelt – und eines Tages werdet ihr enttäuscht sein und wie normale Menschen leben. Mir reicht’s, jedes Jahr dasselbe zu beweisen.“
„Prima!“, freuten sich die Freundinnen. „Dann feierst du Silvester mit uns!“
„Muss das sein?“, zog sie eine Grimasse.
„Keine Diskussion!“, sagten sie entschieden.
Um zehn Uhr abends am 31. Dezember saßen Gertraud und ihre verheirateten Freundinnen mit ihren Männern am Tisch. Die Party war in vollem Gang: Trinksprüche, Gelächter, Tanzen. Gertraud war so aufgekratzt, dass sie gar nicht recht wusste, warum sie plötzlich rausrannte. Erster Stock, Mantel übergeworfen – und schon stand sie im Hof.
Mit roten Wangen und Lametta im Haar spürte sie eine seltsame Glückseligkeit. Sie hob den Kopf und sah die Sterne, die wie festliche Lichter funkelten.
„Wie im Märchen“, flüsterte sie – und hörte plötzlich eine Stimme hinter sich.
„Frohes neues Jahr“, sagte ein baritoner Männerstimme, die eine Spur Melancholie trug.
Gertraud fuhr herum – der Hof war doch leer gewesen! Als sie sich umdrehte, stand ein Fremder da.
„Ihnen auch“, antwortete sie verblüfft und musterte ihn.
Der Mann wirkte verloren, doch seine Augen strahlten Wärme aus.
„Ich habe mich hier völlig verirrt“, gestand er. „Bin zu Besuch gekommen, aber ich glaube, ich habe die Adresse verwechselt. Ich suche die Waldstraße…“
„Da sind Sie aber völlig falsch!“, rief Gertraud. „Das hier ist die Hauptstraße. Kommen Sie mit!“ – Ohne zu zögern, packte sie seine Hand und zog ihn mit.
„Wohin?“, wunderte er sich.
„Silvester fängt gleich an! Los! Den Rest klären wir später!“
Er folgte ihr. Als die Freundinnen sahen, dass Gertraud nicht allein zurückkam – nach bloß zwei Minuten Abwesenheit! –, ließen sie fast ihre Gläser fallen.
„Wo warst du?“, kreischte eine. „Gleich ist Mitternacht! Wünsch dir was!“
Keiner weiß, was sie sich in dieser Nacht wünschten, doch der Fremde, der sich als Konrad vorstellte, blieb. Er mischte sich so natürlich unter die Gäste, als gehöre er schon immer dazu. Niemand stellte Fragen – alle feierten einfach bis zum Morgengrauen.
Als es hell wurde, kam Gertraud zu sich. Die nächtliche Euphorie verflog, und sie betrachtete Konrad mit einer Mischung aus Verwunderung und leichter Peinlichkeit. Er war die ganze Nacht an ihrer Seite geblieben – doch jetzt fühlte es sich seltsam an.
„Welche Straße suchen Sie nochmal?“, fragte sie.
„Waldstraße.“
„Kommen Sie, ich bringe Sie hin. Ist nicht weit.“
„Sind wir wieder beim ‚Sie‘?“, lächelte er.
„Waren wir je beim ‚Du‘?“, blaffte sie.
Er zuckte nur mit den Schultern.
„Welche Hausnummer?“
„Dreiundzwanzig.“
Gertraud erstarrte. Das war ihr Haus!
„Und die Wohnung?“
„Fünfundvierzig“, antwortete Konrad und bemerkte ihr überraschtes Gesicht.
„Das kann nicht sein!“, stieß sie hervor.
„Was denn?“
„Da wohne ich!“ – Sie musterte ihn misstrauisch. „Wer sind Sie? Woher kennen Sie meine Adresse? Haben meine Freundinnen Sie geschickt?“
„Welche Freundinnen?“, fragte er verwirrt.
„Kommen Sie mir nicht so! Solche Zufälle gibt’s nicht!“
Als sie die Tür zu Wohnung 45 mit ihrem eigenen Schlüssel aufschloss, brach Konrad plötzlich in Lachen aus.
„Jetzt verstehe ich!“, rief er. „Ich erklär’s dir!“
„Versuch’s“, murmelte Gertraud, die sich veräppelt fühlte.
„Vermieten Sie diese Wohnung?“
„Ja…“
„Die Vermieterin heißt Ulrike Schmidt?“
„Ja…“
„Ich bin ihr Sohn“, grinste er. „Wohne in einer anderen Stadt, wollte sie überraschen. War noch nie hier – sie hat die Wohnung erst vor Kurzem bekommen.“
„Frau Schmidt wohnt bei ihrer besten Freundin“, sagte Gertraud, die langsam zur Ruhe kam. „Die beiden haben es so gemütlicher. Und die Miete sparen sie zusammen.“
„Klingt nach meiner Mutter“, nickte Konrad. „Sie rechnet jeden Cent dreimal um.“
„Ich geb Ihnen die Adresse der Freundin“, bot Gertraud an. „Die wird sich freuen!“
„Wollen wir nicht zusammen hingehen?“, schlug er plötzlich vor.
„Zusammen?“
„Na klar. Irgendwie… will ich mich nicht von dir trennen.“
Gertraud errötete – aber sie nickte.
Ein Jahr später heirateten sie. Bei der Hochzeit erinnerten die Freundinnen Gertraud an ihren Wunsch. Sie lachte:
„Ich weiß! Hab oft drüber nachgedacht! Jetzt feiern wir nicht nur Silvester, sondern auch unseren Kennenlerntag!“
Gertraud und Konrad sind seit fast zehn Jahren zusammen. Jedes Jahr freuen sie sich aufs Neue auf Silvester und erzählen ihrem Sohn, wie alles begann. Der hört mit großen Augen zu – und glaubt natürlich fest an Wunder.