Zu sauber für eine junge Mutter
Als Sabine die Tür öffnete und ihre Schwiegermutter sah, zuckte ihr Herz kurz. In den Armen hielt sie die halb angezogene Mariechen, die sie seit drei Stunden vergeblich zum Schlafen zu bringen versuchte. Ihre Augen waren vor Müdigkeit schwer, die Haare strubbelig, die Stimme kraftlos.
„Schläft sie nicht?“ fragte Helga Schmidt, betrat das Zimmer und warf dabei einen kurzen Blick auf das Durcheinander.
„Nein…“ seufzte Sabine.
„Und wann hast du das letzte Mal geschlafen?“ Die Stimme der Schwiegermutter klang streng, aber nicht böse.
„Ich weiß es nicht mehr. Sie beruhigt sich nur in meinen Armen“, antwortete Sabine und senkte leicht den Blick.
„Gib mir das Enkelkind. Ich nehme sie mit und fahre eine Runde – im Auto schläft sie immer gut. Du kannst dich ausruhen. In ein paar Stunden bin ich zurück.“
Sabine nickte fast unmerklich. Helga nahm die Kleine, ihr Mann schnappte die Tasche mit den Baby-Sachen, und schon waren sie weg. Sabine blieb allein in der leeren Wohnung zurück.
Sie hatte immer ein wenig Respekt vor ihrer Schwiegermutter gehabt. Helga war nicht grob oder gemein, aber in ihrer Stimme lag etwas, das einen automatisch aufrecht sitzen ließ und jeden Widerspruch erstickte. Klein, schlank, mit langen dunklen Haaren und blasser Haut – ein einziger Blick von ihr reichte, um zu wissen, was sie dachte.
Mit ihrem späteren Mann war Sabine seit der Schulzeit zusammen. Alles führte zur Hochzeit: Beide Familien halfen – kauften ein Grundstück am Stadtrand, bauten ein Haus. Die Schlüsselübergabe war feierlich, mit Trinksprüchen und Freudentränen. Und damals hatte Helga gesagt:
„Lebt lange und glücklich.“
Seitdem gaben sie ihr Bestes. In einem Jahr richteten sie das Grundstück her, Sabine legte einen Garten an, pflanzte Blumen und Erdbeeren. Hühner hielten sie nicht – beide Seiten der Familie versorgten sie mit allem Nötigen. Ein bescheidenes, aber sorgenfreies Leben.
Die Schwiegermutter mischte sich nie ein, doch Sabine spürte trotzdem den Druck. Bei deren Besuchen wurde penibel geputzt, gekocht und geschlemmt – alles, um die perfekte Hausfrau zu mimen. Sogar von der Schwangerschaft erfuhr Helga als Erste, noch vor Sabines Mann oder ihren Eltern.
Mariechen kam in der 39. Woche zur Welt – wie ein Geschenk zu Helgas Geburtstag. Doch das Kind war unruhig: schlief schlecht, quengelte ständig. Sabine nahm es mit ins Bett, ruhte kaum noch, aß im Stehen. Sie nahm ab, die Milch wurde knapp.
„Du siehst schrecklich aus“, schüttelte ihre Mutter den Kopf. „Ich bleibe hier, du legst dich hin.“
„Nein, nein, ich schaffe das.“
Sie wollte perfekt sein. Fragte nie um Hilfe, beschwerte sich nie. Erst bei einem spontanen Besuch bemerkte Helga, wie schlimm es wirklich stand. Sie kam unangekündigt, nur ein kurzer Anruf vor der Tür. Die Wohnung war unordentlich, überall Spuren der Erschöpfung. Doch Helga sagte nichts – sie bot einfach an, das Enkelkind mitzunehmen.
Als Helga Stunden später zurückkam, war die Wohnung kaum wiederzuerkennen: blitzende Spiegel, eine blitzsaubere Küche, der Duft von Apfelkuchen. Sabine begrüßte sie mit einem Lächeln, das kurz vor den Tränen stand.
„Wir bleiben nicht zum Essen“, sagte Helga leise. „Es ist hier viel zu sauber…“
Sabine verstand nicht.
„Wir haben Mariechen mitgenommen, damit du dich ausruhst – nicht damit du die Badewanne schrubbst und den Boden wischst. Du musst auf dich aufpassen. Dein Kind braucht dich nicht mit Kuchen in der Hand, sondern mit Kraft und Gesundheit. Wir sind immer da – du musst nur fragen. Und dein Mann hat auch zwei Hände, er kann sich ruhig mal um seine Tochter kümmern.“
Helga winkte ab und ging. Sabine stand mitten in der perfekt aufgeräumten Wohnung und fühlte sich leer.
Die Schwiegermutter hatte recht. So sehr recht. Diese Lektion würde Sabine ihr Leben lang nicht vergessen.