Wenn die U-Bahn schweigt: Eine Erzählung zwischen Traum und Angst

**Als die U-Bahn verstummte: Eine Geschichte zwischen Schlaf und Angst**

Gestern blieb Leonie zum ersten Mal seit Monaten länger im Büro. Es war ein harter Tag: Meetings, Berichte, nur einen Kaffee den ganzen Abend. Sie verließ das Gebäude und merkte gar nicht, wie sie plötzlich vor dem U-Bahn-Eingang stand. Ihr Kopf rauschte, ihr Herz dröhnte wie die Schienen vor einem einfahrenden Zug. Sie ging hinunter – und wusste sofort, sie war zu spät.

An der alten Uhr über dem Bahnsteig leuchtete 00:48. Die digitale Anzeige blinkte einmal – und erstarrte, als wäre sie selbst eingeschlafen. Unten lagen die dunklen Gleise, feucht, als wären sie von etwas Lebendigem poliert worden. Tropfen fielen von der Decke, jeder Klang so scharf wie ein Schuss. Leer. Kein Geräusch, kein Licht, keine Bewegung.

Leonie trat an den Bahnsteigrand und starrte in den Tunnel. Nichts. Nicht einmal das gewohnte Brummen, kein Blitzen, kein Pfeifen, keine Stimmen aus den Lautsprechern. Alles, was sie hörte, war ihr eigenes Atmen und das einsame *Plitsch-Platsch* wie der Sekundenzeiger in einem Haus, das längst verlassen ist.

Sie setzte sich auf die Bank. Ihr Handy zeigte 2% Akku, ein Balken Empfang. Apps öffneten sich nicht, Karten luden nicht, Nachrichten blieben stumm. Sie seufzte, steckte es weg – und erst dann bemerkte sie: Die Station war völlig leer. Kein Diensthabender, keine Putzkraft, nicht mal ein einsamer Fahrgast mit tief ins Gesicht gezogener Mütze. Nicht einmal Sicherheitspersonal. Als wäre alles verschwunden und nur sie geblieben – die Letzte.

Leonie hatte nie Angst vor der U-Bahn gehabt. Für sie war sie immer ein vertrauter Weg gewesen, eine eigene unterirdische Stadt, jeder Waggon wie ein Zimmer, jede Haltestelle eine kleine Insel. Doch heute war etwas anders. Die Stadt war leer. Zu leer. Und in dieser Stille regte sich die Angst.

„Hallo?!“, rief sie in den Tunnel. Ihre Stimme hallte dumpf zurück, verlor sich, ohne eine Antwort zu finden. Keine Schritte, kein Rascheln. Nur ein Tropfen.

Langsam ging sie den Bahnsteig entlang. Ihre Absätze klackten wie Schüsse. Hinter den Drehkreuzen – nichts. Die Automaten blinkten in neonblauer Melancholie, als würden sie sich langweilen. Alles funktionierte – aber atmete nicht. Wie ein Körper nach dem Herzstillstand.

„Na gut“, murmelte sie und versuchte, fest zu klingen, obwohl ihre Stimme verriet, wie unsicher sie war. „Ich warte. Bis zum Morgen ist es nicht mehr lang.“

Sie schloss die Augen. Lehnte sich an ihre Tasche. Und schlief ein. Sie merkte nicht, wie sie wegdriftete.

Dass sie aufwachte, lag an der Bewegung neben ihr. Ein Mann hatte sich gesetzt. Grauer Mantel. Sein Gesicht blieb im Schatten. Er roch nach Regen, Asche und etwas Vergessenem.

„Lange hier?“, fragte er, ohne sie anzusehen.

„Ich habe mich verlaufen… oder eher: bin hängen geblieben“, flüsterte Leonie mit schwerer Zunge. „Und Sie?“

Er nickte. Starrte auf die Gleise, als wären sie etwas Wichtiges. Schwieg. Dann sagte er: „Die Bahn fährt noch. Nur nicht jeder hört sie.“

„Was?“, sie rückte unwillkürlich zurück. „Wer sind Sie? Von der Bahn? Vom Sicherheitsdienst?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin auch mal geblieben. Als ich dachte, es gäbe keinen Weg mehr.“

Seine Stimme war ruhig. Angstlos. Und in dieser Ruhe lag etwas… Vertrautes. Als wüsste er, was sie fühlte. Als hätte er sie schon lange gekannt.

„Wohnen Sie hier?“

„Nein. Ich treffe nur die, die den Ausgang verloren haben. Manchmal reicht es, wenn jemand sagt: Der Ausgang ist nicht immer eine Tür.“

Leonie stand auf. Wollte gehen. Machte einen Schritt. Drehte sich noch einmal um.

„Ich weiß, wie ich rauskomme. Aber… die Bahn kam einfach nicht.“

„Doch“, nickte er. „Nur fährt sie nicht immer auf Schienen. Manchmal bist du selbst die Bahn. Warte nicht auf das Signal. Es ist längst gekommen.“

Sie zögerte. Horchte. Doch die U-Bahn schwieg. Mit einem kurzen Nicken ging sie zum Ausgang. Vorbei an Säulen, an der blassen Anzeige, wo längst keine Buchstaben mehr liefen. Vorbei an der leeren Halle.

Und dahinter, hinter der Glastür, war Licht. Echtes. Morgenlicht. Grau, müde, aber lebendig. Ein Bus. Eine Frau mit einer Einkaufstüte. Der Geruch von Brot aus dem Kiosk.

Leonie drehte sich um – doch der Mann war fort. Verschwunden. Oder einfach dahin gegangen, wo niemand mehr wartete.

Sie trat hinaus. Atmete tief ein. Und ging nach Hause – langsam, sicher. Denn wenn die U-Bahn verstummt, spricht manchmal trotzdem jemand. Nicht laut. Aber genau dann, wenn es nötig ist.

*Manchmal ist der Weg nicht da, wo man ihn sucht. Sondern dort, wo man ihn geht.*

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