Als die U-Bahn verstummte: Eine Geschichte zwischen Schlaf und Angst
Greta hatte sich zum ersten Mal seit Monaten spät von der Arbeit aufgemacht. Es war ein anstrengender Tag gewesen: Meetings, Berichte, nur eine Tasse Kaffee den ganzen Abend. Als sie das Büro verließ, bemerkte sie kaum, wie sie vor dem Eingang zur U-Bahn stand. Ihr Kopf dröhnte, ihr Herz summte wie die Schienen vor einem einfahrenden Zug. Sie stieg hinab und wusste sofort – sie war zu spät.
Auf der alten Uhr über dem Bahnsteig leuchtete 00:48. Die digitale Anzeige blinkte einmal und erstarrte, als wäre sie selbst eingeschlafen. Unten lagen die dunklen Gleise, feucht, als wären sie von etwas Lebendigem poliert worden. Tropfen fielen von der Decke in einem seltsamen Rhythmus, jeder Ton so klar wie ein Schuss. Leer. Kein Geräusch, kein Licht, keine Bewegung.
Greta trat an den Rand des Bahnsteigs und spähte in den Tunnel. Nichts. Nicht einmal das gewohnte Dröhnen, keine Lichtblitze, kein Pfeifen, keine Stimmen aus den Lautsprechern. Alles, was sie hörte, war ihr eigener Atem und das einsame *Plitsch-Platsch*, wie der Sekundenzeiger in einem Haus, das längst niemand mehr bewohnte.
Sie setzte sich auf die Bank. Ihr Handy zeigte 2% Akku. Empfang: ein Strich. Apps öffneten sich nicht, Karten luden nicht, Messenger blieben stumm. Sie seufzte, steckte das Telefon weg und erst dann fiel ihr auf – die Station war völlig verlassen. Kein Schaffner, keine Putzfrau, nicht einmal ein einsamer Fahrgast mit heruntergezogener Mütze. Nicht mal Sicherheit. Als wäre alles verschwunden, und sie war geblieben – die Letzte.
Greta hatte nie Angst vor der U-Bahn gehabt. Nie. Sie war ihr vertrauter Weg, ihre unterirdische Stadt, in der jeder Waggon wie ein eigenes Zimmer war, jede Haltestelle eine kleine Insel. Doch heute stimmte etwas nicht in dieser Stadt. Sie war zu leer. Zu still. Und in dieser Stille regte sich die Angst.
„Hallo?!“, rief sie in den Tunnel. Ihre Stimme warf ein hallendes Echo zurück, das verhallte, ohne eine Antwort zu finden. Keine Schritte, kein Rascheln. Nur ein Tropfen.
Greta ging langsam den Bahnsteig entlang. Ihre Absätze klackerten wie Schüsse. Sie blickte hinter die Drehkreuze – leer. Die Automaten flackerten in neongrüner Melancholie, als würden sie sich langweilen. Alles funktionierte – aber es atmete nicht. Als wäre die Station erstorben, aber nicht abgeschaltet. Wie ein Körper nach dem Herzstillstand.
„Egal“, murmelte sie und versuchte, sicher zu klingen, obwohl ihre Stimme verräterisch zitterte. „Ich warte. Bis morgen ist es nicht mehr lang.“
Sie setzte sich auf die Bank, schmiegte sich an ihre Tasche, schloss die Augen. Und schlief ein. Sie merkte nicht, wie sie wegrutschte.
Ein Geräusch weckte sie. Jemand hatte sich neben sie gesetzt. Ein Mann. Ein grauer Mantel. Sein Gesicht lag im Schatten. Er roch nach Regen, Asche und etwas Vergessenem.
„Sind Sie schon lange hier?“, fragte er, ohne sie anzusehen.
„Ich hab mich verlaufen… Naja, bin hiergeblieben“, flüsterte Greta und kämpfte darum, ihre Lippen zu bewegen. „Und Sie?“
Er nickte. Starrte auf die Gleise, als wären sie etwas Bedeutendes. Schwieg, dann sagte er:
„Die Bahn fährt noch. Nur nicht jeder hört sie.“
„Was?“, sie rückte unwillkürlich zurück. „Wer sind Sie? Vom Service? Von der Sicherheit?“
„Nein“, schüttelte er den Kopf. „Ich bin auch mal hiergeblieben. Als ich dachte, es gäbe keinen Weg mehr.“
Seine Stimme war ruhig. Ohne Angst. Und in dieser Ruhe lag etwas… Vertrautes. Als wüsste er, was sie fühlte. Als würde er sie schon lange kennen.
„Wohnen Sie hier?“
„Nein. Ich treffe nur die, die den Ausgang verloren haben. Manchmal reicht es, wenn jemand daran erinnert: Der Ausgang ist nicht immer eine Tür.“
Greta stand auf. Wollte gehen. Machte einen Schritt. Drehte sich noch einmal um.
„Ich weiß, wie man rauskommt. Nur… die Bahn ist nicht gekommen.“
„Doch“, nickte er. „Nur fährt sie nicht immer auf Schienen. Manchmal bist du selbst die Bahn. Warte nicht auf das Signal. Es ist schon ertönt.“
Sie stand zögernd da. Horchte. Aber die U-Bahn schwieg. Mit einem stummen Nicken ging sie zum Ausgang. Vorbei an Säulen, an der verblassten Anzeige, wo längst keine Buchstaben mehr liefen. Vorbei an der leeren Halle.
Dahinter, hinter der Glastür, war Licht. Wirkliches. Morgenlicht. Grau, müde, aber lebendig. Ein Bus, eine Frau mit Einkaufstüte, der Duft von Brötchen aus dem Kiosk.
Greta drehte sich um – doch der Mann war weg. Verschwunden. Oder einfach dorthin gegangen, wo man ihn nicht mehr erwartete.
Sie trat auf die Straße. Atmete tief ein. Und ging nach Hause – langsam, sicher. Denn wenn die U-Bahn verstummt – manchmal spricht doch noch jemand. Nicht laut, aber genau dann, wenn man es braucht.