Frühling, März, Köln. Damals wohnte ich in einem Studentenwohnheim der Uni auf der anderen Rheinseite. Der Tag war hart, morgen stand eine knifflige Prüfung an, und ich brauchte dringend etwas Schlaf. Doch mein Nachbar links – derselbe Typ, der später mein Mann wurde – drehte die Musik so laut auf, dass die Scheiben klirrten.
Zuerst hoffte ich, es würde nicht lange dauern. Eine Stunde, zwei… Um elf wurde es nur noch lauter. Ich biss die Zähne zusammen, sammelte meinen Mut und klopfte schließlich an seine Tür.
Er machte nicht auf, sondern brüllte von drinnen: *„Wer ist da? Was willst du?“*
Mit zusammengepressten Zähnen bat ich ihn höflich, die Musik leiser zu machen. Stille. Eine Minute später war es ruhig. Ich ging zurück in mein Zimmer, dachte, das Thema sei erledigt. Hätte ich damals nur gewusst, wie sehr ich mich täuschte.
Eine Woche später passierte genau dasselbe. Diesmal öffnete er aber. Da stand er: blaue Augen, lockige Haare und der Geruch von billigem Rotwein. Er wirkte unfreundlich, fast schon patzig, als hätte ich ihn mitten in der Nacht gestört – dabei war es erst zehn. Wir wechselten ein paar Worte, er versprach, leiser zu sein. Und tatsächlich: Es wurde still.
Dann bekam ich eine Nachricht auf Facebook von einem Fremden. Ich wusste sofort, dass er es war. Wir waren in derselben WG-Gruppe, wo ich aus Naivität meine Zimmernummer gepostet hatte. So hatte er mich gefunden.
Am Anfang war der Chat noch distanziert, doch schnell wurde daraus ein Flirt. Ich nahm es nicht ernst – dachte, er sei bloß betrunken und gelangweilt. Ehrlich gesagt, fand ich es unangenehm: Ich konnte Betrunkene nicht ausstehen und wollte sicher nicht mein Leben mit so jemandem verbringen. Doch irgendetwas hielt mich davon ab, den Kontakt abzubrechen.
Nach den Semesterferien kam ich zurück und fand Dutzende Zettel an meiner Tür. Er schrieb, er sei verliebt. Dass er nicht schlafen, nicht lernen könne. Dass ich ihm jede Nacht in seinen Träumen begegne. Sogar Gedichte waren dabei. Eigentlich romantisch – aber ich fand es nur nervig. Sein Verhalten wirkte aufdringlich, fast schon besessen. Ich ignorierte ihn komplett: keine Antwort, kein Kontakt.
Einige Monate vergingen. Es war Juni, ich hatte gerade eine schwere Prüfung hinter mir, der Sommer stand vor der Tür, und meine Laune war bestens. Als ich gerade zum Gebäude lief, hörte ich, wie jemand meinen Namen rief. Ich drehte mich um – und da war er.
*„Tut mir leid“*, keuchte er. *„Für alles. Für die Musik. Für die Zettel. Dass ich dich belästigt habe. Es ist nur…“*
Dann standen wir vor dem Eingang. Er hielt mir die Tür auf, ließ mich vor. Später im Aufzug bemerkte ich zum ersten Mal, wie aufmerksam er war. Er öffnete jede Tür für mich, sah mich von unten an, als hätte er Angst, etwas Falsches zu sagen. Plötzlich drückte er den Notfallknopf.
Ich erstarrte.
*„Was machst du?!“*, fuhr ich ihn fast an.
*„Warte“*, sagte er leise. *„Ich muss dir etwas sagen. Bitte.“*
Er kam näher. Ich wich zurück, doch es gab kein Entkommen. Er berührte mein Kinn, hob es sanft und flüsterte:
*„Warum läufst du weg? Warum gibst du mir keine Chance?“*
Ich wollte etwas Schneidendes sagen, mich losreißen, gehen. Doch ich konnte nicht. Etwas in seinem Blick war so ehrlich, dass mir die Worte fehlten. Und dann küsste er mich. Ich hätte zurückweichen sollen – tat es aber nicht. Keine Ahnung, was es war – Magie, der Moment, Intuition – aber von da an änderte sich alles.
Er lud mich zu sich ein. Ich sagte ja.
In seinem Zimmer brannten Kerzen, es war dämmrig, ein Glas Wein stand bereit.
*„Ich trinke nicht“*, sagte ich.
*„Aber heute ist ein besonderer Abend“*, antwortete er und lächelte.
Wir redeten. Lange. Echt. Zum ersten Mal sah ich in ihm nicht den Rabauken oder den lauten Nachbarn, sondern einen sensiblen, verletzlichen und warmherzigen Menschen. Seine Worte berührten mich, seine Berührungen waren sanft. Er machte Witze, gab mir Komplimente, spielte mit meinem Zopf. Dann führte er mich auf den kleinen Gemeinschaftsbalkon. Nacht. Mondlicht. Er zeigte mir die Sterne, erzählte von Sternbildern, nannte mich seinen *„Sternschnuppenmoment“*. Ich lachte und konnte nicht glauben, dass das alles wirklich passierte.
Wir blieben bis zum Morgen. Als ich einschlief, deckte er mich zu, küsste mich auf die Stirn und sagte:
*„Ich lasse dich nicht mehr gehen.“*
Sechs Jahre später bin ich jetzt mit genau diesem lauten Nachbarn verheiratet, der sich mit Musik, Gedichten, Wein und einem steckengebliebenen Aufzug in mein Leben gedrängt hat. Wir erwarten ein Kind. Und manchmal kann ich es immer noch nicht fassen, dass alles mit einem einfachen Klopfen an der Tür und der Bitte um etwas Ruhe begann.
Liebe ist seltsam. Manchmal versteckt sie sich nicht in Blumen oder Geständnissen, sondern in den unerwartetsten Augenblicken. Man muss nur genau hinhören – auf das Herz und den Lärm hinter der Wand.