Also, hör mal, ich erzähl dir was. Meine Mutter hat aus mir einen hungrigen Mann gemacht – und erst eine Reha-Therapeutin hat mir wieder Geschmack am Leben gegeben.
Ich habe nicht gleich gemerkt, dass ich nicht körperlich hungerte – sondern nach Liebe und Akzeptanz.
Ich heiße Matthias. Ich bin vierunddreißig. Geboren und aufgewachsen in Dresden. Meine Mutter hat mich alleine großgezogen, mein Vater war weg, bevor ich überhaupt ein Jahr alt war. Was ich aus meiner Kindheit in Erinnerung habe? Spannung, Angst und der ständige Kampf um ihre Anerkennung.
Meine Mutter war eine Frau mit kühler Schönheit – schlank, streng, ewig auf Diät, bei Schönheitsbehandlungen oder Marathonläufen. Sie war nie zufrieden mit sich selbst – und dadurch auch nicht mit mir.
Ich war nie gut genug. Nicht in der Schule, nicht im Sport, nicht im Spiegel. Sie bestimmte, wann ich aß, kontrollierte mein Gewicht schon im Kindergarten, verbot Süßes und Kohlenhydrate, zwang mich zum Sport, obwohl ich lieber malte oder las. Sie sagte immer: „Wenn du nicht schlank bist, wird dich niemals jemand lieben.“
Mit diesem Glaubenssatz wuchs ich auf. Als Teenager war ich verschlossen, düster, einsam. Ich wollte Mädchen gefallen, war aber überzeugt, dass mich keiner wollte. Also dachte ich: Wenn ich nicht geliebt werden kann, dann wenigstens perfekt sein. Ich trainierte bis zur Erschöpfung, hungerte, quälte mich mit Joggen, Gewichten, Eiweißdiäten. Mein Körper wurde eine Rüstung.
Mit den Jahren zog ich Frauen an, aber in mir saß noch immer der Junge, der Angst hatte, verlassen zu werden. Meine Beziehungen waren kurz, nervös, oberflächlich. Bis der Unfall passierte. Ein Platten auf der Autobahn, Schleudern, Überschlag. Ich wachte im Krankenhaus auf – gebrochenes Bein, verletzte Schulter, und mein Gefühl von Kontrolle war zerstört.
In der Reha hatte ich Johanna Berger – Anfang dreißig, selbstbewusst, streng, aber irgendwie … warm. Sie sah mich nicht nur als Patienten. Sie sah, dass in mir alles kaputt war.
Am Anfang hielt ich mich zurück. Aber ihre Fragen waren so direkt, ihre Stimme so ruhig, dass ich anfing zu reden. Über meine Kindheit, über meine Mutter, über die ewige Jagd nach Anerkennung, über die Frauen, die ich verloren hatte. Sie unterbrach nie. Hörte einfach zu. Und sagte manchmal nur: „Du verdienst es, geliebt zu werden. Einfach, weil du du bist.“
Diese Worte zerbrachen etwas in mir. Wir sahen uns jeden Tag. Und ich fing an, mich auf diese Treffen zu freuen. Nicht als Patient – sondern als ein Mensch, der zum ersten Mal Wärme spürte.
Ich verliebte mich. Leise. Ohne Geständnis. Ich war einfach glücklich, wenn sie ins Zimmer kam. Manchmal redeten wir über Bücher, Filme. Manchmal über das Leben. Als sie sagte, sie fahre zwei Wochen zu einer Konferenz, spürte ich panische Leere.
Wir schrieben Nachrichten. Sie antwortete freundlich, aber distanziert. Ich wusste nicht, ob sie jemanden hatte. Aber sie war alles, was ich hatte. Nach ihrer Rückkehr lud ich sie auf einen Kaffee ein. Sie sah mich traurig an und sagte:
„Matthias, du bist mir wichtig. Aber ich kann keine Beziehung mit einem Patienten beginnen. Das widerspricht meiner Ethik.“
Ich verstand. Dankte ihr. Ging. Ja, ich weinte. Zum ersten Mal seit Jahren. Nicht weil sie Nein sagte – sondern weil ich lebendig war. Ich fühlte etwas.
Heute laufe ich wieder. Ohne Krücken. Ich gehe ins Fitnessstudio – nicht um perfekt zu sein, sondern um stark zu sein. Und falls ich Johanna je wieder sehe – dann lade ich sie auf einen Kaffee ein. Nicht als Patient. Sondern als ein Mensch, der nicht mehr hungert. Weder im Körper noch im Herzen.