Jeden Morgen verließ Viktor sein Haus punkt 07:30 Uhr. Nicht weil er sich beeilen musste – Arbeit hatte er schon lange nicht mehr. Sein Körper kannte einfach die Routine: das Morgenlicht, das Knarren des Gartenzauns, die kühle Luft auf der Treppe. Die Straßen waren an seine Schritte gewöhnt, streunende Hunde knurrten nicht, und die Verkäufer in den Kiosken boten ihm keinen Kaffee an – sie wussten, er hatte seinen Thermobecher dabei. Er nickte immer nur leicht, als wollte er bestätigen: Alles ist wie immer, alles läuft seinen Gang.
Er ging durch den Hinterhof, vorbei an der alten Post und der verlassenen Bushaltestelle, und blieb immer an der kaputten Bank an der Ecke stehen. Setzte sich, holte den Becher raus, breitete die Zeitung auf seinen Knien aus. Gelesen hat er sie nie – sie war nur Teil des Rituals. Er beobachtete die Straße. Die Menschen. Die Stadt, die an ihm vorbeirauschte, ohne ihn zu bemerken. Er sah, wie Gesichter sich veränderten, wie fremde Kinder größer wurden, wie alles schneller wurde – nur er blieb zurück. Nicht wie ein Denkmal, sondern wie etwas Festes, eine alte Eiche mitten im Viertel.
Die Bank war uralt. Verkratzt, abgeblätterte Farbe, eine wacklige Lehne, die jeden Moment umkippen konnte. Sie war aufgestellt worden, als Viktor noch bei der Stadtreinigung arbeitete – Schlösser reparierte, Rohre schleifte, mittags mit Kollegen scherzte. Damals hatte er selbst die Schrauben an dieser Bank angezogen, als wollte er Wurzeln schlagen. Jetzt stand sie da, vergessen von allen – außer von ihm. Die Schrauben rosteten, aber sie hielten. Wie Erinnerungen, die nicht aufgegeben haben.
Manchmal setzten sich andere zu ihm. Eine alte Frau mit Einkaufstüte, ein Schuljunge mit einem Brötchen, ein Mann mit einem zotteligen Hund. Sie schauten kurz auf ihr Handy oder ihre Uhr und gingen wieder. Viktor blieb. Als ob er ein Teil dieser Bank wäre – ihr Schatten, ihr Herz, ihr hartnäckiger Atem.
Eines Tages kam eine Frau Mitte dreißig mit einer Kamera auf ihn zu. Sie zögerte, dann lächelte sie, aber in ihrem Lächeln lag etwas Unsicheres.
„Darf ich Sie fotografieren?“, fragte sie und spielte mit dem Kameragurt.
Viktor blickte auf, blinzelte gegen die Morgensonne.
„Mich? Warum?“ Seine Stimme war rau, aber nicht unfreundlich.
„Ich habe ein Projekt. Ich fotografiere Menschen, die nicht weggehen. Nicht die, die rennen, sondern die, die den Platz halten. Sie… Sie sind wie eine Wurzel dieser Stadt. Man kann Sie nicht übersehen.“
Er grinste, zupfte an seiner alten Jacke, warf einen Blick auf die Zeitung.
„Na gut, mach’s. Aber sag ihnen, ich schlafe nicht, ich denke nach. Sonst glauben die noch, der alte Mann ist eingeschlafen.“
„Ich sage, Sie sind der Hüter der Zeit“, antwortete sie mit einem Funkeln in den Augen.
„Dann fotografier mich mit der Sonne. Damit es nicht zu traurig aussieht.“
Eine Woche später tauchte sein Foto in einer lokalen Facebook-Gruppe auf. Der Post bekam Hunderte Reaktionen. Menschen schrieben: „Das ist der Opa von der Bank!“, „Er ist immer da“, „Als wäre er ein Teil der Straße.“ Und Viktor saß einfach weiter da. Trank seinen Kaffee. Beobachtete die Leute. Manche Blicke erwiderte er mit einem kurzen Lächeln, als würde er die erkennen, die ihn zuerst erkannt hatten.
Im Frühjahr wurde die Bank ausgetauscht. Ein Arbeiter brachte eine neue – glänzend, aus Metall, mit glatten Armlehnen und einer Kunststofflehne. Sie war fremd, zu perfekt, wie ein Gast aus einer anderen Welt. Viktor betrachtete sie, stand auf, trat einen Schritt zurück. Noch einen. Als wollte er für immer gehen – doch dann blieb er stehen.
„Schade, oder?“, fragte der Arbeiter, während er mit seinem Werkzeug klapperte.
„Die Bank? Ja, schade“, antwortete Viktor, ohne ihn anzusehen. Sein Blick blieb dort, wo früher der Schatten der alten Bretter gefallen war. „Aber nicht nur für mich.“
Er diskutierte nicht. Er ging. Doch am Abend, als der Hof leer war, kam er zurück. Mit einer Dose Farbe und einem Pinsel. Auf der neuen Bank, genau an der Stelle, wo die alte einen Riss gehabt hatte, malte er eine dünne Linie. Kaum sichtbar, wie eine Narbe aus Erinnerung. Dann setzte er sich, schenkte sich Kaffee ein, faltete die Zeitung auf. Und es klang fast, als würde selbst das Metall leise knarren, um ihn anzuerkennen.
Seitdem kam er wieder. Zur gleichen Zeit, an den gleichen Platz – wie der Zeiger einer Uhr, der seinen Kreis vollend gemacht hat. Trank seinen Kaffee, stark, mit einem Hauch Bitterkeit, der nach Eisen schmeckte. Schaute auf die Straße, auf die Leute, die vorbeieilten, ohne zu wissen, dass Erinnerungen manchmal eine Bank sein können. Manchmal nickten Passanten ihm zu, wenn sie ihn erkannten. Einige blieben stehen, um „Hallo“ zu sagen.
Eines Tages zeigte ein Junge mit seiner Mutter auf ihn:
„Mama, das ist der Mann! Aus dem Internet! Er ist echt!“
Manchmal, um zu bleiben, muss man nirgendwo hingehen. Man muss nicht schreien oder etwas beweisen. Es reicht, einfach da zu sein. An einem Ort. Lange. Mit Wärme. Damit jemand, der vorbeigeht, denkt: „Schön, dass er hier ist.“ Und lächelt.