**Tagebucheintrag**
Zuerst verschwand ein Handschuh. Dann der Schlüsselbund. Schließlich das alte Tuch. Man hätte das Alter, die Zerstreutheit, die Müdigkeit verantwortlich machen können. Doch als schon der fünfte Gegenstand innerhalb eines Monats fehlte – die Nähkiste mit Nadeln und Fäden, die immer auf dem Wohnzimmerregal gestanden hatte –, hielt Helga Schmidt es nicht mehr aus. Langsam sank sie auf einen Stuhl, ihr Herz klopfte nicht vor Angst, sondern vor einem dumpfen, wachsenden Ärger. Ihre kleine, geordnete Welt begann sich wie ein Stoff aufzulösen, und unsichtbare Hände zogen an den Fäden mit beängstigender Genauigkeit.
„Gut, du willst also spielen?“, sprach sie in die Leere, und ihre Stimme zitterte nicht aus Schwäche, sondern aus Trotz, scharf wie der eisige Wind draußen.
Die Wohnung blieb stumm. Nur die alte Standuhr im Nebenzimmer tickte unerbittlich, ihr Pendel schlug die Sekunden mit gnadenloser Präzision. Helga lebte seit acht Jahren allein. Ihr Mann war still eingeschlummern – auf dem Sofa, mit einer halb gelesenen Zeitung auf den Knien. Nach seinem Tod hatte sie nichts verändert: der abgenutzte Tisch blieb, die gleichen Vorhänge, sogar seine Tasse stand noch da – mit abgebrochenem Rand und der verblassten Aufschrift „Bester Ehemann“.
Ihr Sohn besuchte sie selten, nur alle paar Monate. Er brachte Tüten mit Nudeln, Medikamente, murrte, dass sie nicht ans Telefon ging, und verschwand wieder eilig. Seine Worte waren knapp, als wären sie aus einem vollen Terminplan zwischen Arbeit und Familie gerissen. Sie war nicht böse. Verstand es ja: Er hatte sein eigenes Leben, Kinder, Schulden. Alles klar. Sie nahm seine Geschenke entgegen, nickte, lächelte, geleitete ihn zur Tür und stand noch lange im dunklen Flur, betrachtete die abblätternde Farbe, bis die Stille fast greifbar wurde.
Doch vor einem Monat war etwas Seltsames in ihr Haus eingezogen. Nicht plötzlich, nicht lautlos – als würde jemand unsichtbar behutsam an ihrem Leben schneidern, wie ein Schneider, der den Stoffrand kürzt. Zuerst war der Geruch da – fein, als würden in der Ecke trockene Blätter schwelen, wie im alten Haus ihres Großvaters am Dorfrand. Dann die Zugluft. Die Vorhänge bewegten sich, selbst bei geschlossenen Fenstern. Und die Schatten. Sie glitten über die Wände, unabhängig vom Licht, als schliche jemand durch den Raum, ohne den Boden zu berühren. Das Haus atmete in einem fremden Rhythmus, nicht in ihrem.
Helga schwieg. Sie saß nur öfter am Fenster, die Beine angezogen, mit einem abgekühlten Tee in der Hand, und schaute in den schneebedeckten Hof eines alten Städtchens in Bayern. Sie beobachtete, wie der Wind die Flocken wirbelte, wie sie sich auf den Dächern sammelten, und erinnerte sich. Wie ihr Vater ihr das Körbeflechten beibrachte, ihre Finger korrigierte, wenn sie die Weiden verhedderte. Wie sie und ihr Mann sich in den Neunzigern an den alten Ofen schmiegten und lachten, während sie versuchten, feuchtes Holz anzuzünden. Wie sie ihr erstes Handy sahen und die halbe Nacht diskutierten, wie es funktionierte, bis sie erschöpft aneinandergeschmiegt einschliefen.
Dann begannen die Dinge zu verschwinden. Erst Kleinigkeiten: ein Knopf, ein Taschentuch, eine alte Haarklammer. Dann Wichtigeres: ihr Lieblingsschal, die Brille, das Fotoalbum. Und jedes Mal – spurlos, sinnlos. Als schnitte jemand unsichtbar Stücke aus ihrem Leben, ließ nur Leere zurück.
„Wo bist du hingegangen?“, fragte sie eines Tages in den leeren Raum. Ihre Stimme klang unerwartet laut, als würden die Wände vor Schreck zurückweichen. Sie erstarrte.
Aus dem Schlafzimmer kam eine Antwort: „Hier.“
Die Stimme war leise, fast kindlich, aber nicht unheimlich. Nicht bedrohlich. Nur fremd. Und gerade deshalb – erschreckend echt.
Sie lief nicht sofort hin. Kochte Tee, setzte sich, wartete. Starrte in den Dampf, als läge die Lösung darin. Dann stand sie auf, richtete die Schultern und betrat langsam das Schlafzimmer. Die Tür knarrte, als zweifle sie mit ihr. Der Raum war unverändert: das Bett ordentlich gemacht, die Vorhänge halb zu. Auf dem Nachttisch ein Foto ihres Sohnes in Schuluniform, leicht verblasst, in einem schlichten Holzrahmen. Doch die Luft war anders. Die Stille lebendig, als halte jemand den Atem an. Eine Anwesenheit, kaum spürbar, aber warm wie eine sanfte Berührung.
„Wer bist du?“, fragte sie ruhig, ohne Angst, als wisse sie, dass ihr nichts geschehen würde.
Keine Antwort. Nur ein leises Knarren der Dielen, als mache jemand einen Schritt und verharre.
Am nächsten Tag fehlte das alte Notizbuch, in dem sie Gedichte und Adressen längst verstorbener Freunde aufgeschrieben hatte. Abends fand sie beim Rückkehr aus der Küche eine offene Karte auf dem Tisch. Ohne Briefmarke, ohne Unterschrift. Nur zwei Worte, in zitternder Schrift: „Ich bin hier.“
Seitdem lebten sie zu zweit. Die Fremde in den Ecken, den Schatten, dem Flüstern der Vorhänge. Helga im Tageslicht, im Zischen des Wasserkochers, im Klirren der Löffel. Sie sprachen nicht. Doch eines Tages fand sie alle verschwundenen Dinge im Schrank. Ordentlich gestapelt, sauber, als hätte sich jemand liebevoll darum gekümmert.
Plötzlich begriff sie: Es war kein Eindringling. Es war sie selbst. Die, die sie längst vergessen, verdrängt hatte – als ihr Mann starb, als ihr Sohn auszog, als die Tage zu einem grauen Stoff verschmolzen. Die, die einst am Lagerfeuer sang, zu alten Schallplatten tanzte, Briefe schrieb, die nie ankamen. Die, die langsam verschwand mit jedem „später“, jedem „nicht jetzt“.
Helga nahm das Tuch, legte es sich um die Schultern. Es roch nach Lavendel und Vergangenheit. Sie trat auf den Balkon, zündete sich eine Zigarette an – zum ersten Mal seit neun Jahren. Der Rauch stieg gen Himmel und nahm die Last, die Einsamkeit, die fremde Zurückhaltung mit sich.
Unten fiel Schnee. Sanft, fast schwerelos. In seinem Schimmer funkelten die Lichter des Städtchens, als flüstere die Welt selbst: „Ich habe auf dich gewartet.“
*Wo bist du hingegangen?*, dachte sie. *Da bist du ja. Gefunden.*