Dort, wo der Fluss stillsteht
Als Paul in das Dorf zurückkehrte, das zwischen den Kiefernwäldern Brandenburgs verloren lag, kam es ihm vor, als sei die Luft hier dichter, schwerer geworden. Als hätte sich die Zeit verdichtet, sei in den Nadeln, den Rissen der Fachwerkhäuser und dem feuchten Boden unter seinen Füßen hängengeblieben. Alles wirkte fast wie früher – die schiefe Brücke über den Bach, die alte Scheune am Weg, die krumme Birke an der Kurve – und doch war etwas ungreifbar anders. In jedem vertrauten Gegenstand lauerte eine Pause, ein Bruch, der Schatten von etwas Verlorenem. Paul ging den mit Tannennadeln bestreuten Pfad entlang und blieb am Gartentor stehen.
Das Haus stand wie eh und je, doch es schien, als trüge es die Last der Jahre. Die Fenster waren vernagelt, die Geländer der Veranda von fremden Händen abgerissen – Spuren der Zeit oder der Gleichgültigkeit. Ein Brett baumelte an einem rostigen Nagel, schwang im Wind wie eine stumme Glocke, die die verlorenen Jahre schlug.
Zwanzig Jahre waren vergangen. Seit er damals gegangen war – hastig, im alten Bus, mit einem Rucksack voll Wut und Groll gegen die Welt. Er hatte sich nicht umgedreht. Keine Zeile geschrieben. Als hätte er nicht nur die Verbindung zum Dorf, sondern auch die Erinnerung daran gekappt.
Sein Vater war vor sechs Jahren gestorben. Paul hatte es zufällig erfahren, durch eine Nachricht eines alten Bekannten in einem Messenger, den er selten öffnete. Knappe Worte: „Leise beerdigt. Ohne dich. Er hat auf dich gewartet, dann aufgehört.“ Ohne Vorwürfe, aber mit einem Schatten, der stärker brannte als jede Anklage. Als hätte jemand einen Schlussstrich gezogen, dessen Tinte noch immer blutete.
Er war nicht zur Beerdigung gekommen. Er war gekommen, weil er eines Tages die Leere gespürt hatte. Nicht die, von der Bücher erzählen, sondern eine echte, mit scharfen Kanten, einem Echo, das in der Brust widerhallte. Eine Leere wie ein Loch in der Erde, das sich nicht zuschütten ließ – nicht mit Arbeit, nicht mit Städten, nicht mit Jahren. Als hätte er etwas Wichtiges verloren und erst jetzt bemerkt, dass es immer da gewesen war – unausgesprochen, ungelebt.
Paul stieß das Tor auf. Es quietschte wie damals, und der Klang jagte ihm Gänsehaut über den Rücken, erinnerte ihn daran, wie sein Vater ihn von der Straße hereinrief. Durch den verwilderten Garten schritt er zur Tür. Drinnen roch es nach Zeit – muffigem Holz, Staub und etwas fast Lebendigem, wie Sehnsucht. Die Wände bewahrten seinen Abschied, sein Schweigen.
Die Küche war erstarrt wie auf einem alten Foto. Die Luft war warm, staubig, mit einem Hauch von altem Tabak. Am Haken hing der abgetragene Sakko seines Vaters – verblasst, aber mit dem gleichen Geruch wie in den Wintern, als er damit die Schultern seines Sohnes bedeckt hatte. Auf dem Tisch: ein gesprungener Salzstreuer, eine vergilbte Zeitung mit verwaschenen Buchstaben, ein zerbrochener Bleistift neben einem abgegriffenen Notizbuch. Paul strich über die Tischplatte. Der Staub blieb an seinen Fingern hängen wie ein Zeugnis seines Zuspätkommens. Und als flüsterte jemand in diesem Staub: „Du bist doch zurückgekommen.“
Er blieb über Nacht. Entfachte den Ofen – unbeholfen, doch das Feuer fing. Saß im Dunkeln, ohne Licht einzuschalten, hörte, wie die Dielen knarrten, als erwachte das Haus langsam aus einem langen Schlaf. Um Mitternacht trat er auf die Veranda. Über dem Dorf breitete sich ein sternenübersäter Himmel aus – so hell, als könnte man die Sterne mit den Händen greifen. Barfuß spürte er die Kälte der Bretter, und plötzlich roch er etwas Vertrautes – nicht Tabak, nicht Kiefern, sondern Gegenwart. Als stünde jemand unsichtbar, aber nah, neben ihm.
Am Morgen ging Paul zum Fluss. Derselbe, an dem er und sein Vater Netze ausgeworfen hatten, gestritten, wer zuerst den Schwimmer bemerkte. Wo er mit fünfzehn die erste Zigarette probiert hatte und sein Vater sie ihm wortlos abnahm, ihn nur ansah, als durchschaue er ihn. Wo ihr letzter Streit begonnen hatte – dumm, aber zu einem Abgrund geworden. Damals hatte Paul geschrien, sein Vater geschwiegen. Danach hatten sie nicht mehr wirklich geredet.
Die Ufer waren mit Schilf überwuchert. Das Wasser war trüb, fast schwarz. Paul stand am Rand, sah den Strom Äste davontragen.
„Fließt er weit?“ fragte eine Stimme hinter ihm.
Er drehte sich um. Eine alte Frau. Eine Nachbarin, wohl vom anderen Ende des Dorfes. Ihr Gesicht zerfurcht wie rissige Rinde, die Augen scharf wie die eines Vogels.
„Irgendwohin fließt er immer“, antwortete Paul. „Alles geht irgendwohin.“
Die Alte trat näher, musterte ihn.
„Ihr seid doch der Sohn von Johann. Ebert.“
Paul nickte.
„Hab Euch nicht gleich erkannt. Man sagte, Ihr wärt für immer weg. Dachten, Ihr kämet nie zurück.“
„Das dachte ich auch“, sagte er leise. „Ich ging, als wäre es für immer. Und dann…“
„Wurde es leer?“ unterbrach sie ihn. „Allen geht’s so. Man rennt davon, aber es holt einen ein.“
Sie seufzte, blickte auf den Fluss.
„Er kam oft hierher. Vor seinem Tod. Saß da, warf Steine ins Wasser. Sagte: ‚Frag mich, ob mein Sohn sich noch erinnert, wie wir hier fischten. Oder ob alles davongespült wurde.‘“
Paul schluckte einen Kloß im Hals.
„Ich erinnere mich. Sogar den Geruch des Schlicks. Sogar wie er schimpfte, als ich das Netz zerriss.“
Die Alte nickte. Schweigend.
„Gut, dass Ihr zurückgekommen seid. Hier ist nicht mehr viel, aber wenn jemand zurückkommt – wird’s leichter. Selbst dem Fluss. Und Eurem Haus erst recht.“
Sie berührte seine Schulter mit einer knöchrigen Hand und ging, sich auf einen Stock stützend. Ohne Abschied, als warte das Gespräch noch auf seine Zeit.
Paul blieb. Starrte lange auf das Wasser. Es floss langsam, beharrlich, unbeeindruckt von Menschen, von Jahren. Er hörte sein Plätschern, vermischt mit Windrascheln und Schilfgeknister. Aus der Tasche zog er ein Foto. Er und sein Vater. Beide jung. Lachend. An jenem seltenen Tag, an dem sie nicht stritten, nicht schwiegen. Der Vater hielt eine Angel, Paul ein Messer, sein Gesicht schmutzverschmiert, aber glücklich.
Er betrachtete das Bild länger als geplant. Als verabschiedete er sich nicht nur davon, sondern auch von dem, der er nie mehr sein würde. Dann ließ er das Foto ins Wasser gleiten. Der Fluss nahm es auf, wirbelte es. Das Papier zögerte, als überlege es, zu sinken oder zu treiben. Dann trieb es davon. Drehte sich, blitzte mit einer Ecke wie zum Abschied und verschwand hinter der Biegung.
Als Paul ins Haus zurückkehrte, wusste er, dass er bleiben würde. Nicht für immer, nein. Aber für jetzt – hier. Solange der Sakko seines Vaters noch roch, der Ofen knisterte, der Fluss seine Schritte kannte. Solange etwas Unausgesprochenes in der Luft lag.
Manchmal muss man zurückkehren, um das zu hören, was ein Leben lang schwieg. Nicht nur zu verzeihen, sondern zu verstehen. Um das zu sagen, was ungesagt blieb. Sich selbst. Dem Vater. Dem Haus.
Und herauszufUnd als er am nächsten Morgen erwachte, wusste er, dass der Fluss nicht stillstand, sondern nur darauf wartete, von neuem zu fließen.