**Tagebucheintrag**
Meine Mutter nimmt es mir übel, dass ich nicht meine ganze Zeit mit ihr verbringen kann. Sie scheint einfach nicht zu begreifen, dass ich mein eigenes Leben habe. Jedes Mal, wenn ich nicht gleich ans Telefon gehe oder nicht zu ihr fahre, ruft sie weinend an, beschuldigt mich, ist beleidigt oder manipuliert mich. Ich bin neunundzwanzig Jahre alt, seit fünf Jahren verheiratet, und wir haben zwei kleine Kinder. Wie man sich vorstellen kann, bleibt kaum Zeit für mich selbst.
Unsere Jüngste geht noch nicht einmal in den Kindergarten – kaum ist sie dort, wird sie krank: Fieber, Schnupfen, Bronchitis… Dann sitzen wir wochenlang zu Hause. Mein Mann und ich haben uns entschieden, dass ich vorerst bei ihr bleibe, bis sie stärker wird. Ja, es ist anstrengend, aber wir wollen uns lieber um sie kümmern, als ständig durch Arztpraxen zu hetzen.
In dieser Situation vergisst man sich selbst komplett. Jeder Tag ist wie der vorherige: kochen, füttern, aufräumen, spielen, trösten, ins Bett bringen. Und dabei muss man liebevoll, geduldig und fröhlich sein, damit die Kinder in Geborgenheit aufwachsen. Aber meine Mutter? Sie tut so, als sähe sie all das nicht. Sie glabt ernsthaft, ich würde nur auf dem Sofa liegen, Serien gucken und durchs Telefon scrollen.
Jeder Anruf von ihr ist voller Vorwürfe: „Warum kommst du nicht?“ – „Ich bin hier allein, mir ist langweilig!“ – „Du könntest wenigstens mal einkaufen gehen!“ Dabei wohnt sie am anderen Ende von München, und der Weg zu ihr mit zwei Kindern ist ein komplettes Abenteuer. Stau, Umsteigen, Erschöpfung, quengelige Kleinkinder – wen interessiert das schon?
Ich komme kaum dazu, unsere Wohnung in Ordnung zu halten. Überall liegen Spielzeuge, Bücher, Kissen. Kaum habe ich aufgeräumt, ist alles wieder chaotisch. Und dann soll ich auch noch zu ihr fahren und bei ihr putzen? Dazu fehlt mir einfach die Kraft. Aber das will sie nicht hören. Für sie bin ich keine eigenständige Person, sondern eine Art Dienstleistung, die ständig verfügbar sein muss.
Manchmal frage ich mich: Interessiert es sie überhaupt, wie es mir geht? Dass mir der Rücken schmerzt, dass ich vor Müdigkeit fast im Stehen einschlafe, dass wir nicht einmal in Ruhe zu Mittag essen können? Ihr geht es nur um ihre Einsamkeit. Aber warum kommt sie nicht selbst vorbei und hilft? Mit den Enkeln spazieren gehen, eine Suppe kochen? So wie normale Omas es tun würden.
Nach der Geburt kam sie auch – mit Ansprüchen. Ich konnte kaum stehen, mein Bauch schmerzte noch, und sie setzte sich aufs Sofa und wartete, bis ich den Tisch für sie deckte. Dann beschwerte sie sich, die Suppe sei zu fett und das Essen sei nichts Besonderes. Ich hätte am liebsten den Boden verschluckt. Ich hatte gerade ein Kind zur Welt gebracht! Ich war seit Tagen übermüdet! Aber sie benahm sich, als wäre sie bei einer Freundin mit Koch und Personal zu Gast.
Seitdem ist es nur schlimmer geworden. Vorwürfe, Anschuldigungen, gekränkte Bemerkungen. Sie hat niemals gefragt, wie es mir geht. Niemals Hilfe angeboten. Für sie sind die Kinder meine alleinige Verantwortung. Sie selbst hält sich für unbeteiligt – verlangt aber, dass ich komme, aufräume, koche und sie unterhalte.
Vor einigen Wochen gab es einen heftigen Streit. Sie schrie, ich sei eine undankbare Tochter, sie habe mich großgezogen, und jetzt sei ich so egoistisch. Ich schwieg. Zum ersten Mal rechtfertigte ich mich nicht. Seitdem haben wir keinen Kontakt. Keine Anrufe, keine Nachrichten. Stille. Und weißt du was?
Endlich fühle ich Erleichterung. Richtige, tiefe Erleichterung. Zum ersten Mal seit Jahren merke ich, wie ruhig es sein kann – ohne ihre Anrufe, ohne Schuldgefühle, ohne dieses „Du schuldest mir was“. Ich schlafe besser. Ich atme leichter.
Manchmal frage ich mich: Brauche ich eine solche Mutter überhaupt? Warum fühle ich mich ständig schuldig, wenn sie es doch längst nicht mehr ist, was eine Mutter sein sollte? In ihrer Welt gibt es nur sie selbst, ihre Wünsche und ihre Launen. Meine Erschöpfung, meine Kinder, mein Leben – das ist nur Hintergrundrauschen.
Ich will nicht mehr in diesen Teufelskreis zurück. Sie soll leben, wie sie will. Aber mich – lässt sie in Ruhe.