Der Schatten des Familienzwists
Unsere ganze Verwandtschaft hat sich von mir und meinem Bruder abgewandt, seit wir vor einem halben Jahr die schwierige Entscheidung trafen, unseren Vater in ein Seniorenheim in München zu bringen.
Die Familie brandmarkte uns als gefühllose Egoisten, als hätte wir uns unseres Vaters entledigt wie eine lästige Last. Doch wir wussten: Dort geht es ihm besser, dort ist er sicher und umsorgt. Trotzdem zerbrach diese Entscheidung unsere Herzen und spaltete die Familie.
Ich, Sabine, und mein Bruder Klaus leben schon lange nicht mehr bei unseren Eltern. Wir haben eigene Familien: Klaus hat eine Frau und zwei Kinder, ich einen Mann und einen Sohn. Wir halfen unseren Eltern immer, besuchten sie regelmäßig, und die Kinder verbrachten die Sommerferien auf ihrem Landhaus in der Nähe von München. Doch die Zeit verschont niemanden, und unsere Eltern wurden immer gebrechlicher.
Zwischen unserem Vater und unserer Mutter lag ein großer Altersunterschied – fast zwanzig Jahre. Unser Vater, Heinrich, ist jetzt zweiundachtzig. Solange unsere Mutter noch lebte, war er fit wie ein Turnschuh. Niemand hätte gedacht, dass er schon so alt ist. Doch vor drei Jahren starb unsere Mutter, und Vater blieb allein zurück. Das brach ihn.
Er war nicht mehr derselbe. Das Leben verlor für ihn jeden Sinn: Er vergaß seine Medikamente, kümmerte sich nicht mehr um sich selbst. Seine Laune wurde unerträglich – an schlechten Tagen ließ er uns nicht ins Haus, schrie uns an, wir sollen verschwinden. Einmal mussten wir fast die Tür aufbrechen: Zwei Tage lang reagierte er nicht auf Anrufe, öffnete nicht, und die Nachbarn hatten ihn nicht gesehen.
Klaus und ich verstanden uns stets gut und teilten uns die Pflege unseres Vaters gerecht auf. Auch seine Frau und mein Mann halfen, wo sie konnten. Wir hofften, Vater würde sich mit der Zeit von seinem Kummer erholen, würde Zeit mit den Enkeln verbringen, den Garten pflegen, wieder Freude am Leben finden. Doch es wurde nur schlimmer.
Vor einem halben Jahr begann Vater seltsame Dinge zu sagen. Er erwähnte unsere Mutter, als wäre sie gerade einkaufen gegangen oder säße im Nebenzimmer. Manchmal verwechselte er die Jahre, nannte uns Kinder, obwohl wir längst erwachsen waren. Wir gingen zu Ärzten. Die Diagnose traf uns wie ein Schlag: Altersbedingte Gehirnveränderungen. Medikamente konnten den Prozess verlangsamen, aber nicht aufhalten.
Klaus und ich beschlossen, dass Vater zu mir ziehen sollte. Mein Bruder versprach, finanziell zu helfen. Doch Vater weigerte sich strikt, seinen alten Familienwohnsitz zu verlassen. Einmal wurde er so wütend, dass wir den Krankenwagen rufen mussten – er hätte fast einen Herzinfarkt erlitten. Die Ärzte rieten uns, ihn nicht noch zu beunruhigen, also gaben wir nach.
Doch sein Zustand verschlechterte sich. Nach einem Schlaganfall verlor er fast die Beweglichkeit seiner rechten Hand und begann zu humpeln. Am schlimmsten war, dass er plötzlich von zu Hause weglief und sich verirrte. Nachbarn fanden ihn dann in einer fremden Straße, verwirrt und ohne Orientierung. Es wurde gefährlich.
Sich um einen Menschen mit klarem Verstand zu kümmern ist eine Sache – aber mit jemandem zu leben, der jederzeit verschwinden könnte, ist etwas ganz anderes. Klaus und ich begannen, nach einem Seniorenheim zu suchen, in dem Vater rund um die Uhr betreut werden würde.
Die Auswahl war qualmschwer. Wir besichtigten Dutzende Einrichtungen, lasen Bewertungen, sprachen mit dem Personal. Schließlich fanden wir einen Ort, der uns zusagte: ein gemütliches Pflegehaus nahe der Stadt, mit medizinischer Versorgung, Spaziergängen im Park, psychologischer Betreuung, einem Schwimmbad und sogar einem Schachclub. Ja, es war teuer – fast 4000 Euro im Monat – aber für unseren Vater waren wir zu allem bereit.
Als wir ihn dorthin brachten, besuchten wir ihn zunächst täglich, um zu sehen, wie er sich einlebte. Zu unserer Erleichterung blühte er auf. Er wurde klarer im Kopf, führte längere Gespräche und fand sogar Freunde, mit denen er Schach spielte oder alte Filme ansah. Er sagte, es gefalle ihm dort.
Wir atmeten auf. Vater nahm seine Medikamente, wurde beaufsichtigt und lief keine Gefahr mehr, sich zu verlaufen oder zu verletzen. Wir hatten alles getan, um ihn in Sicherheit zu bringen. Doch die Familie verstand das nicht.
Die Verwandten überhäuften uns mit Vorwürfen. Sie glaubten, wir hätten unseren Vater in ein billiges Heim abgegeben, wo er gequält werde. Besonders wütend war Tante Helga, Vorsitzende des Schwäbischen Trachtenvereins und jüngste Schwester unseres Vaters. Ihre Worte trafen wie Messerstiche: „Ihr habt euren Vater verletzt! Ihr habt ihn weggeschafft wie alten Müll!“ Ihre Wut steckte die anderen an, und bald galten wir als geächtet.
Wir versuchten zu erklären: zeigten Fotos des Heims, erzählten von der Fürsorge, die Vater erhielt, berichteten, wie wohl er sich dort fühlte. Doch niemand hörte zu. Tante Helga schrie, wir seien herzlos, dass Vater sich nach seinem Zuhause sehne, dass wir ihm seine Freiheit genommen hätten.
Irgendwann gaben wir auf. Sollen sie doch denken, was sie wollen. Klaus und ich wissen die Wahrheit: Vater ist in guten Händen, er lächelt, spielt Schach, anstatt allein durch die Straßen zu irren und sich in Gefahr zu bringen. Sein Wohlergehen und seine Sicherheit sind das Einzige, was zählt.
Doch jedes Mal, wenn ich ihn besuche, schnürt sich mein Herz zusammen. Wir haben unseren Vater gerettet – doch unsere Familie verloren. Und diese Wunde wird wohl nie verheilen.
Manchmal führt der richtige Weg durch tiefes Unverständnis, aber das Wohl eines geliebten Menschen ist jeden Schritt wert.